Rede zum 9.November 1994, Reichspogromnacht
Liebe Rom,
Liebe Freunde,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir haben uns heute hier versammelt anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht von 1938. Dem Beginn der organisierten offenen Hetze und Jagd gegenüber Juden. Eine Jagd, die dann in der industriellen Vernichtung von sechs Millionen Juden in den KZs der Nazis endete.
Mein Name ist Heinrich Weiss. Ich bin Rom und der Vorsitzende der Roma-Union Frankfurt am Main. Zigeuner werden wir im Volksmund beschimpft. Sechs Jahre wurde ich von den Nazis wegen meiner Herkunft in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Ich wurde mißhandelt und als Versuchsperson für medizinische Experimente mißbraucht. Meine Familie wurde in Auschwitz vergast. So wie über eine halbe Million andere Roma und Sinti aus rassistischen Gründen von den vermeintlichen Herrenmenschen ermordet wurden.
Wenn ich heute im Namen unserer Menschen Solidarität, Mitgefühl und Gedenken mit dem Leiden der jüdischen Bevölkerung bekunde, so weiß ich aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, überlebt zu haben und dem menschenverachtenden Terror entkommen zu sein. Und ich weiß auch, wie notwendig es ist, dafür einzutreten, daß sich das alles nicht mehr wiederholt!
Wir stehen hier in der Nähe des Jugendamts, des Sozialamts, in der Nähe des Magistrats und des Gesundheitsamts. Eva Justin, eine der maßgeblichen Forscherinnen, die während des Nationalsozialismus sogenannte rassebiologische Untersuchungen an unseren Menschen vorgenommen hatte, war nach 1945 im Jugendamt der Stadt Frankfurt beschäftigt.
In ihrer Doktorarbeit mit dem bezeichnenden Titel "Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder" forderte sie die Sterilisierung aus rassehygienischen Gründen. Die Untersuchungen von Frau Justin führten uns später ins KZ. Ihre Vergangenheit war bekannt. Zur Verantwortung wurde sie nicht gezogen. Im Gegenteil. Ohne Konsequenzen konnte sie weiterhin als Psychologin auch wieder unsere Menschen beurteilen. Auch Robert Ritter, der Leiter der Rassehygienischen Forschungsstelle in Berlin, arbeitete nach 45 unangetastet bei der Stadt Frankfurt am Main.
Einer Stadtverwaltung, die mit Hilfe der Polizei noch in den 70iger Jahren forderte, Roma und Sinti aus Frankfurt zu entfernen. Bestimmt keine Einzelfälle, die bestätigen, daß die Behauptung, es gäbe eine Fortsetzung von nazistischem Gedankengut auch nach 1945, kein verantwortungsloses Daherreden ist, sondern der Realität der Nachkriegsgeschichte und der Gegenwart entspricht.
Antisemitismus und Rassismus sind zwar aus den meisten Parteiprogrammen und aus der offiziellen Politik gestrichen, allerdings nicht aus den Hirnen und nicht aus dem Handeln vieler Bürger. Immer wieder wird auf diese Restposten der Unmenschlichkeit zurückgegriffen. Vor allem, wenn es darum geht, die persönliche Unzulänglichkeit oder das politische und soziale Desaster zu vertuschen. Die überwiegende Mehrheit in diesem Land ist immer noch empfänglich dafür Juden, Roma und Sinti als geborene Sündenböcke und Betrüger auszumachen, anstatt sich endlich - nach allem was geschehen ist - von diesem tödlichen Ressentiments zu verabschieden.
So oft wird uns nachgesagt es läge doch an uns. An unserem mangelnden Integrationswillen. An der fehlenden Bildung. Angeblich würde sich so vieles ändern, wenn wir uns endlich so verhielten wie die Mehrheit.
Wer solche Sprüche vorbehaltlos bringt ist nicht nur ein vorsätzlicher Lügner, sondern auch ein gefährlicher Ignorant. Das Problem sind nicht wir, sondern das vorurteilsbeladene Gegenüber. Im Zweifelsfall ist es gleich, welche gesellschaftliche Position wir einnehmen. Wenn die Zeichen der Zeit es zulassen, sind wir alle wieder Schuld. Gleich ob wohlhabend und hochgebildet oder arm und unangepaßt.
Im Grunde liegt es daran, daß uns nie zugesprochen wurde, was sich jede und jeder selbst zubilligt. Erfolgreich zu sein und Fehler zu machen. Die Freiheit zur persönlichen und widersprüchlichen Entwicklung zu haben. Die Chance wird uns verweigert. Unser Verhalten - gleich wie beurteilt - ist für die meisten immer noch biologisch bedingt und somit das ideale Tummelfeld für verkappte und offene Rassisten mit ihren bekannten Blut- und Boden-Lösungen.
In welcher Zeit leben wir denn eigentlich, frage ich mich.
Ein halbes Jahrhundert nach der Befreiung durch russische Soldaten und Alliierte. Vierzig Jahre nach dem Wirtschaftswunder. Im reichsten Industriestaat der Erde. Also nicht die schlechteste Voraussetzung eine demokratische Gesellschaft aufzubauen.
Man sollte meinen vor dem Hintergrund müßte Platz sein für Toleranz und Akzeptanz, für die Sicherung der persönlichen Integrität - gleich ob es der Flüchtling, die Migrantin, der Asylsuchende oder ob es die Minderheit in der Gesellschaft ist.
Bei kritischem Blick merke ich allerdings täglich mehr den Dorn im Fleisch. Ich meine damit die Tatsache, daß wieder jüdische Friedhöfe geschändet werden, daß eine Synagoge brannte. Ich meine damit die Tatsache, daß Antisemitismus vom Hirn in die diskriminierende und gefährliche Praxis springt. Ich meine, daß Mitglieder der jüdischen Gemeinde ihre sichere Perspektive nicht mehr unbedingt hier sehen und daß Angst eine maßgebliche Rolle dabei spielt, den Davidstern offen zu tragen.
Ich weiß, daß unsere Leute, die Roma und Sinti, sehr feinfühlig bemerken, wie das gesellschaftliche Klima auch für sie immer bedrohlicher wird. Das Ressentiment vom "lügenden Zigeuner", "Sonderbehandlungen" in Verwaltung oder Polizei, die Vermischung von Angst und Haß uns gegenüber zieht sich eng wie ein Strick um unsere Kehle. Wir spüren das. Ein Gefühl, das uns über Jahrhunderte hinweg nie getäuscht hat und das immer der beste Ratgeber zum Überleben war.
Doch seien sie sicher. Man muß nicht Betroffener sein, um dies festzustellen. Ein Blick in die Zeitung oder auf die Straße genügt. Das Verhältnis vieler Deutschen gegenüber den Nicht-Deutschen bzw. gegenüber denen, die als solche betrachtet werden, ist explosiv.
Mölln, Solingen, Fulda und Magdeburg ist die Spitze eines Eisbergs, der uns Roma das Fürchten lehrt. Der in uns die altbekannte Angst hochkommen läßt, letztlich wieder wegen biologischer Minderwertigkeit und angeborenem asozialem Verhalten gejagt und erschlagen zu werden. Ein tödliches Vorurteil, das Juden und Zigeuner schon immer als Zielscheibe benutzt hat.
Was ich darstelle ist nicht übertrieben. Wovor wir uns hier fürchten ist in den Ländern Osteuropas noch mehr bittere alltägliche Realität. Mehr denn je erfüllen die Roma dort die Funktion des Sündenbocks. Auf allen Ebenen. Der alte Haß wird wieder reaktiviert, d. h. Zwangsrekrutierungen in Ex-Jugoslawien, Staatenlosigkeit in Tschechien, soziale Kontrolle und Ausgangssperre in Slowenien. Pogrome mit Toten sind an der Tagesordnung. Pogrome, an denen quer Beet alle Bevölkerungsteile teilnehmen und wo später nicht etwa die Täter geahndet werden, sondern wo die Opfer zu Tätern gestempelt werden. Ein Freibrief für den aufgebrachten Mob und für den nach Stimmen heischenden Staatsmann.
Täglich bekommen wir Nachrichten über die unhaltbare soziale und wirtschaftliche Not, die unsere Menschen erleiden müssen. Die Folge ist Flucht. Die Folge ist aber auch die verschlossene Grenze.
Angehörige, die sich in der BRD aufhalten und nach einem Pogrom zumindest noch dem Begräbnis der Opfer beiwohnen wollen, wird bei Verlassen des Bundesgebiets die erneute Einreise in die BRD untersagt. Ein menschenverachtender Zynismus.
Abkommen mit Polen, Rumänien, der tschechischen Republik und Bulgarien garantieren der BRD, daß unser Menschen abgewiesen werden und daß diejenigen, die es geschafft haben hierher zu kommen, mit einem Federstrich wieder ausgewiesen werden. Bereits über 70.000 Roma Flüchtlinge sind so wieder abgeschoben worden.
Die Geldbeträge, die hierfür den Ländern zur Verfügung gestellt werden und die angeblich teilweise den Roma zukommen sollen, jedoch in den Kanälen der Korruption verschwinden, garantieren den glatten Vollzug, garantieren die Deportation und das Schweigen gegenüber Unmenschlichkeit, Menschenrechtsverletzungen und Rassismus.
Das Elend verlängert sich auch hier für viele Angekommene. Roma-Flüchtlinge sind nicht allein ungebetene Gäste, sie sind in den Augen der meisten eine reine Provokation, deren man, wenn möglich, sich schnellstens zu entledigen hat. Genau so, wie man sich der unbequemen Geschichte und der Verantwortung von industrieller Vernichtung entledigen will. In Italien betreibt man die Zwangsadoption unserer Kinder, in Spanien werden wir vertrieben, in Frankreich stellt man kurzerhand mal Wasser und Strom einer ganzen Roma-Siedlung ab.
Die Chancen dem Ganzen etwas entgegenzusetzen sind gegenwärtig miserabel. Abschiebung, endlose Schwierigkeiten unsere Menschen abzusichern, Illegalität, öffentlicher Druck und die mediengerechte Aufforderung zur Jagd, wie in Köln geschehen, lassen die Betroffenen und die Selbsthilfeorganisationen verzweifeln. Der Rettungsanker Kirchenasyl wird immer brüchiger.
Unser tagtägliches Brot besteht mittlerweile darin, das Schlimmste zu verhindern. Zeit für konkrete Unterstützung bezüglich Ausbildung, bezüglich Aufbau einer Perspektive und Existenz bleibt kaum noch.
Politische Kampagnen zur Verbesserung der Situation sind auf nationaler und regionaler Ebene gescheitert. Über das europäische Parlament, über die KSZE und die Vereinten Nationen versuchen wir nunmehr Forderungen wie Bleiberecht, Flüchtlingsschutz, ein Anti-Diskriminierungs-Gesetz, Selbstbestimmung und eine bindende Menschenrechtscharta für Roma durchzusetzen. Solche Forderungen haben nur Sinn, wenn sie von einer couragierten engagierten Öffentlichkeit begleitet werden.
Der heutige Tag und die kommende Zeit soll dafür verwendet werden durch Aktionen, Kundgebungen, durch Veranstaltungen und durch politischen Druck Zeichen zu setzen. Das ungeteilte Gedenken an den Beginn des geplanten Massenmords an der jüdischen Bevölkerung ist der Anfang einer europaweiten Kampagne, die sich gegen jegliche Form von Antisemitismus und Faschismus wendet und den Schutz der Flüchtlinge in ihren Mittelpunkt stellt.
Unterstützen Sie uns darin.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.