Rede zum 54. Gedenktag der Befreiung des KZ-Auschwitz
durch die Rote Armee


Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freunde,

Mein Name ist Lothar Winter. Ich bin der Vorstandsvorsitzender der Roma-Union. Vor 54 Jahren wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit. Neben sechs Millionen Juden, über einer halben Million Roma und Sinti, neben so vielen anderen Opfern wurde alleine in der ehemaligen Sowjetunion über 20 Millionen Russen von Deutschen ermordet.

Für uns Roma und Sinti ist die Befreiung von Auschwitz ein wirklicher Feiertag, denn das Vorhaben der Nazis, uns vollständig zu vernichten, hat sich nicht bewahrheitet. Dennoch, fast eine ganze Generation wurde ausgelöscht. Nur die wenigsten deutschen Roma und Sinti kamen aus den Lagern zurück. Und die, die zurückkamen, waren und sind für das Ende ihres Lebens gezeichnet. Gezeichnet von einer Vergangenheit, die weder zu verarbeiten, geschweige denn zu bewältigen ist. Viele unserer Menschen sind traumatisiert und damit meine ich auch die Kindeskinder. Der Schock wirkt heute noch bis tief in die Generationen nach. Allein in meiner Familie kamen von 63 Personen lediglich 6 zurück. Ein Verlust, den niemand beschreiben und auch nicht wiedergutmachen kann.

Wir wenden uns mit dieser Demonstration gegen das Vergessen und Wegdenken und gegen die geistigen und tätlichen Brandstifter. Tätliche Brandstifter sind diejenigen, die im Oktober letzten Jahres das Haus einer Roma Familie in Fechenheim mit einem Brandsatz bewarfen und zwar mit der Absicht, Kinder und Frauen zu ermorden. Geistige Brandstifter sind diejenigen, die beispielsweise wie das Fechenheimer CDU-Mitglied Bodenstedt die Opfer für den Anschlag selber verantwortlich machen, da sie sich nicht anpassen würden.

Unser Zusammenkommen ist allerdings auch als nachhaltige Kritik gegenüber intellektuellen Brandstiftern zu verstehen, deren Vorreiterrolle nicht zu unterschätzen ist. Wenn einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller, nämlich Martin Walser, von der "Moralkeule Auschwitz" redet, so ist das für mich nicht anders zu verstehen, denn als Aufforderung an die schweigende und zustimmende Mehrheit, endlich wegschauen, verdrängen und verdrehen zu können. Sie werden verstehen, daß ich mit meiner Geschichte, mit der Geschichte meiner Familie und dem Bewußtsein über die jahrhundertelange Verfolgung von Roma und Sinti nicht das geringste Verständnis für jede Form von Relativierung habe. Ignatz Bubis hat den richtigen Ton gegenüber Walsers Anmaßungen gefunden, als er ihn als geistigen Brandstifter bezeichnete, selbst wenn er das später aus Gründen der Staatsraison, wie ich meine, zurücknahm.

Walser sollte wissen, daß man sich seine Geschichte nicht aussucht und gerade dann nicht, wenn sie so unbequem und quälend ist wie die deutsche Geschichte der Vernichtung. Walser sollte wissen, daß persönliche Befindlichkeiten, endlich wegsehen, wegschauen zu wollen zwar individuell verständlich sind, allerdings als Maßstab für die Übernahme von Verantwortung und Verpflichtung nicht im geringsten dienen. Im Gegenteil, so wie sie Walser ins Land posaunt hat, sind sie - man sieht es an den vielen positiven Zuschriften - zur Generalabsolution geworden für eine Mehrheit, die nur darauf gewartet hat, ihre Geschichte entsorgen zu können. Meine Damen und Herren, damit ist die endgültige Voraussetzung geschaffen, das sich das Inferno wiederholt. Es gibt zu viele Anzeichen und zwar in einer ungebrochenen Kontinuität seit 1945 dafür, daß ein nicht unmaßgeblicher Teil der Bevölkerung einer solchen Wiederholung nicht ablehnend gegenübersteht, denn Antisemitismus und Rassismus sind nach wie vor prägende politische und erzieherische Einstellungen. Walser weiß das und schüttete mit seinen Ausführungen Öl ins Feuer.

"Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen, ohne Muskeln und ohne Fett. Entzündungen und Krätze bedeckten die unterernährten Körper. Die Kiefer waren ausgehöhlt, Zunge und Zähne konnte man durch die Löcher in den Wangen sehen". So lautet eine kurze Beschreibung der Zustände im "Zigeunerlager" Auschwitz. In den 50er Jahren befand das Bundesverwaltungsgericht, daß Roma und Sinti von den Nazis lediglich vorsorglich im Sinne polizeilicher Schutzmaßnahmen interniert worden seien und zwar aufgrund ihres kriminellen und asozialen Verhaltens.

Meine Damen und Herren, mit diesem Spruch, der erst zehn Jahre später aufgehoben wurde, stellte sich das Gericht auf die Seite der Täter. Denn, ich frage mich, ganz abgesehen von der verlogenen Gesamtkonstruktion, wie können Kinder und Säuglinge kriminell und asozial sein. Wir Opfer wurden gedemütigt, indem Himmler zum ordnungsliebenden rechtschaffenden Polizeibeamten erhoben wurde und die Roma und Sinti an ihrer Vernichtung selber Schuld waren und die Entschädigung versagt blieb. Eine Ungeheuerlichkeit, die die Nachkriegsgeschichte, von der ich eben redete, veranschaulicht.

Ein Überlebender von Auschwitz, Primo Levi, sagte: Nicht die Opfer sind die Zeugen! Es sind vielmehr die Täter und auch deshalb stehen wir heute hier.

Seit nunmehr fast zehn Jahren informiert die Roma-Union darüber, daß im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main nach 1945 zwei maßgebliche NS-Rassenforscher, nämlich Robert Ritter, Leiter des bevölkerungsbiologischen Instituts und der rassenhygienischen Forschungsstelle in Berlin und seine Assistentin Eva Justin, tätig waren. Eva Justin schrieb ihre Doktorarbeit über Sinti-Kinder. Nach Abschluß ihrer Studien, wurden bis auf drei Kinder alle in Auschwitz ermordet. Ritter und Justin "forschten" - so nannte man die Verbrechen - schon in den 30er Jahren zum Thema "Zigeuner". Sie suchten unsere Menschen auf. Justin sprach sogar unsere Sprache. Sie vermaßen uns, erstellten sogenannte erbbiologische Gutachten mit dem Ergebnis, daß wir Untermenschen wären und bezeichneten uns als primitiv, kriminell, asozial und Schädlinge. Daten von mehr als 25.000 deutschen Roma und Sinti hatte das Berliner Institut gesammelt. Dies ging nur über eine reichsweite enge Zusammenarbeit mit den Fürsorgeämtern, den Stadtgesundheitsämtern, den Meldestellen, den Pfarrämtern und der Kriminalpolizei. Unabhängig vom Berliner Institut war auch im Stadtgesundheitsamt Ffm. eine Erbkartei angelegt, die die in ihr erfaßten 300.000 Personen unter der Rubrik "sonstartfremd" auch nach "Zigeunern" einordnete. All das, die Kategorisierung, Erfassung, Bewertung und Internierung in den verschiedensten Lagern, wie in Frankfurt Bockenheim oder Fechenheim, waren die Vorstufe zur darauffolgenden Deportation und schließlich zur Vernichtung.

Ich stehe hier, um an diejenigen zu erinnern, die dem zum Opfer gefallen sind und ich stehe hier, um die Täter zu benennen. Obwohl es bekannt war, welche Funktionen Ritter und Justin im Nationalsozialismus inne hatten, konnten sie nach 1945 bedenkenlos weiter arbeiten, als Psychologin und als Mediziner. Justin untersuchte kurzzeitig in den 60er Jahren noch die Lebensbedingungen von Wohnsitzlosen auf dem Bonameser Standplatz. Dort hielten sich auch Roma und Sinti auf. Für ihr Tun wurden Ritter und Justin nie zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, vielen Opfern wurde jede Form der Entschädigung - soweit man davon überhaupt reden kann - versagt. Es gab Familien, deren Klageverfahren von denen begutachtet worden sind, die sie ins KZ gebracht haben. Das war neben dem was man uns angetan hat, eine zweite Schmach. Eine weitere Demütigung ist es, wenn auf unser seit Jahren gefordertes Anliegen, nämlich die Anbringung einer Tafel an diesem Haus, einer Tafel, die an die ermordeten Roma und Sinti erinnert und die Täter benennt, mit Schweigen reagiert wird, so als ob man damit alles Ungeschehen machen könnte. Auf unseren Brief an Kulturdezernent Nordhoff im Oktober letzten Jahres hat dieser bis heute nicht reagiert, ebenso wie seine Vorgängerin, Frau Reisch. Der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, Herr Rebentisch, meinte, die Roma-Union wollte den Tätern gedenken. Eine solche Bemerkung disqualifiziert sich selbst. Ich werde sie nicht weiter kommentieren. Die Tafeln an den Lagern Fechenheim, die niemand zur Kenntnis nimmt, weil sie so weit außerhalb liegen, sollen wohl ausreichen. Über den erschlagenden Rest der Vergangenheit soll der Schleier des Vergessens liegen bleiben. Das Stadtgesundheitsamt soll im Zuge der Umwidmung der Braubachstraße in eine Kunstmeile Galeriehaus werden und somit auch dem Vergessen anheim fallen.

Dennoch, liebe Damen und Herren, unsere Zähigkeit zeigt auch Erfolg. Trotz Ablehnung des Ortsbeirats, die Tafel mit Nennung der Namen anzubringen, starteten wir vor Weihnachten einen Spendenaufruf. Von den zu veranschlagenden 7.000 DM für die Fertigung der Tafel sind bereits knapp 4.000 DM eingegangen. Eine positive Nachricht wie ich finde. Unsere Aktion wird bundesweit von namhaften Persönlichkeiten unterstützt, darunter Ignatz Bubis und Günter Grass. Nach Fertigstellung der Tafel wird sie in der Frankfurter Gallus-Gemeinde Kirchenasyl finden und zwar so lange, bis sie endlich am rechtmäßigen Ort ist, dem Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main.

Sehr geehrte Damen und Herren, vor dem Verlesen des Tafeltextes und der Niederlegung unseres Kranzes, möchte ich den heutigen Jahrestag der Befreiung von Auschwitz mit einem Auszug aus einem Gedicht von Primo Levi beenden. Ein Gedicht, das meine Gedanken, Gefühle und Erwartungen sehr gut schildert.

"Ihr, die Ihr abends beim Heimkehren warme Speise findet und vertraute Gesichter: 

Denkt, ob dies ein Mann sei, der schuftet im Schlamm.
Der Frieden nicht kennt. 

Der kämpft um ein halbes Brot. 

Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
Denkt, ob dies eine Frau sei, die kein Haar mehr hat und keinen Namen. 

Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat, leer die Augen und kalt ihr Schoß. 

Denkt, daß solches gewesen ist.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. 

Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzt, in einem Haus.
Wenn ihr geht auf euren Wegen, wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht; 

ihr sollt sie einschärfen euren Kindern!



Ich möchte nun den Tafeltext verlesen und bitte nach Niederlegung des Kranzes um eine Gedenkminute.



Mehrere hunderttausend europäische Roma und Sinti wurden unter
nationalsozialistischer Herrschaft ermordet. An mehr als 20.000
deutschen Roma und Sinti wurden "rassenbiologische" Untersuchungen
durchgeführt. Zwangssterilisation, Inhaftierung und Folter waren
die Vorstufe des massenhaften Todes in den Konzentrations- und
Vernichtungslagern der Nazis.

Von in Frankfurt am Main lebenden Roma und Sinti wurden:
172 Personen in "Zigeunerlagern" in der Diesel- und Kruppstraße
interniert,
8 Personen zwangssterilisiert,
174 Personen nach Auschwitz deportiert und
mindestens 89 Roma und Sinti dort ermordet.

Ab 1947 waren zwei maßgeblich an "rassenbiologischen
Untersuchungen" beteiligte Personen, Robert Ritter und Eva Justin,
im Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main in leitender Funktion
beschäftigt. Sie wurden für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft
gezogen. Die beiden Namen stehen stellvertretend für diejenigen,
die unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Forschung oder durch
Wegsehen und Schweigen den Völkermord an Roma und Sinti
ermöglichten.

In Achtung vor den Opfern, als Erinnerung, Mahnung und
Verpflichtung

(27.1.99, Ffm., Braubachstraße)


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