Die
keine homogene Volksgruppe darstellenden, sondern vielmehr nach kulturellen,
sozialen, sprachlichen und regionalen Subgruppierungen unterscheidbaren
Roma-Gemeinschaften stellen in Rumänien hinter den ethnischen Ungarn die
zweitgrößte Minderheit, wobei ihre Bevölkerungsgröße Schätzungen zufolge mehr
als eine Million Individuen beträgt.1) Gemeinschaftsübergreifende Charakteristika
der Roma stellen deren historisch und aktuell marginale gesellschaftliche
Position, fehlende faktische Gleichberechtigung sowie die ständige Konfrontation
mit den Vorurteilen der Mehrheitsbevölkerung dar. Sowohl die seit dem Beginn des
rumänischen Systemwechsels im Jahre 1989/90 drastisch verschlechterten
materiellen Lebensbedingungen als auch das Auftreten vielfältiger Ausgrenzungs-
und Diskriminierungsformen stellen prägende Faktoren der aktuellen Roma-Situation dar, welche im folgenden ansatzweise und erörtert werden sollen
Für die rumänische Gesamtgesellschaft im allgemeinen und für die große Mehrheit
der Roma-Gemeinschaften im besonderen hatten die Konsequenzen der nach 1989/90
eingeleiteten Wirtschaftsreformen eine drastische Verschärfung ihrer materiellen
Lebensbedingungen zur Folge. Die nach 1989/90 insbesondere durch
Betriebsschließungen und die Rationalisierung von Arbeitskräften verursachten
Massenentlassungen lösten einen starken Anstieg der Arbeitslosenquote aus.
Während noch 1993 die Arbeitslosenquote bei 3% lag, war zwischen 1998 und 1999
ein Anstieg auf 11% mit steigender Tendenz zu verzeichnen.2) Noch im Dezember 1999
betrug das durchschnittliche Monatseinkommen umgerechnet lediglich 110$;3) eine
hohe Inflationsrate, Preissteigerungen im Bereich der Lebenshaltungskosten und
eine wachsende Abhängigkeit der zu großen Teilen verarmten Bevölkerung von der
dezimierten staatlichen Sozialunterstützung stellen nicht ausschließlich in
Rumänien Charakteristika der gesamtgesellschaftlichen Lebensbedingungen dar.
Obwohl den Roma während der Phase des Sozialismus mit dem Ziel der Assimilation
von staatlicher Seite Wohnraum, Arbeitsplätze und Bildungsmöglichkeiten zur
Verfügung gestellt wurden, bildete der Großteil der Roma-Bevölkerung bereits vor
dem Umbruch eine unterprivilegierte, marginalisierte, ein ungenügendes
Bildungsniveau aufweisende und vorwiegend als unqualifizierte Arbeitskräfte und
Hilfsarbeiter auf der untersten Beschäftigungsstufe tätige Randgruppe. Den
mehrheitlich ungelernten Arbeitskräften fehlten somit die zur Einfügung in die
marktwirtschaftlichen Erwerbsstrukturen erforderlichen Voraussetzungen. Viele
während der Ceausescu-Diktatur als unterbezahlte Arbeiter in Bereichen wie der
Bau- und Schwerindustrie beschäftigte Roma verloren nach 1989/90 als einige der
ersten ihre Arbeitsplätze und damit auch ihre materielle Lebensgrundlage.
Gravierend wirkte sich auch die Umstrukturierung des Agrarsektors, in dem bis
zum Sturz des sozialistischen Systems etwa 50% der erwerbstätigen Roma als
Saisonarbeiter und Viehzüchter tätig gewesen waren, mit der Privatisierung von
Grund und Boden und der Schließung landwirtschaftlicher
Produktionsgenossenschaften aus. Einer Studie zufolge betrug die
Arbeitslosenquote innerhalb der rumänischen Roma-Gemeinschaften im Jahre 1992
gar 50% und lag damit ein Vielfaches über der der Mehrheitsbevölkerung.4) 84% der
Roma gaben im Rahmen einer repräsentativen Untersuchung vom November 2001
gegenüber 63% der ethnischen Rumänen an, aktuell keiner Beschäftigung
nachzugehen. 23% der befragten Roma fehlte jegliche Einkommensquelle; 33% mußten
mit einem Monatseinkommen von höchstens 1 Million Lei (30$) auskommen.5) Ein
unterdurchschnittliches Bildungsniveau, mangelnde berufliche Qualifikation, die
abnehmende Bedeutung traditioneller Beschäftigungsformen von Roma wie der des
Kesselschmiedes, der Blumenverkäuferin oder des Herstellers von Holzgegenständen
sowie die aus der Existenz von Vorurteilen gegen Roma resultierenden
diskriminierenden Verhaltensweisen von Arbeitgebern erschweren die Eingliederung
der Volksgruppenmitglieder in die Erwerbsstrukturen erheblich. Die aus dem
weitgehenden Ausschluß vom offiziellen Arbeitsmarkt resultierende unzureichende
Existenzgrundlage bedingt extreme Armut sowie die Verstärkung der sozialen
Isolation.
Auch künftige Roma-Generationen finden denkbar ungünstige Bedingungen zur
Integration in die Erwerbsstrukturen vor, da ihre Eltern die Ausbildung der
Kinder nicht finanzieren können und diese mit ihrer Arbeitskraft oder auch
mittels Diebstahl und Bettelei frühzeitig zur Überlebenssicherung beitragen
müssen. Zudem ist im Schulwesen die Diskriminierung von Roma-Kindern durch
Klassenkameraden und Lehrkräfte, welche sich anhand von Beschimpfungen, der
Platzierung in der letzten Bank und dem damit einhergehenden Ausschluß vom
Unterrichtsgeschehen oder gar anhand physischer Übergriffe manifestiert,
verbreitet und fördert vorzeitige Schulabbrüche.
Folgen des erschwerten Zugangs zum formellen Arbeitsmarkt sind die verstärkte
Hinwendung zum Schwarzmarkt sowie die Verfolgung halblegaler oder illegaler
Überlebensstrategien. Dazu gehören der an Straßenrändern betriebene Verkauf von
günstig erworbener Ware oder Diebesgut zu überhöhten Preisen, die oftmals von
behinderten Familienangehörigen betriebene Bettelei sowie Diebstahl. Andere Roma
verdingen sich als Aushilfskräfte und Tagelöhner, wobei diese Beschäftigungen
keinerlei soziale Absicherung wie Krankenversicherung, Kündigungsschutz und
Altersversorgung beinhalten. Dem geringen Anteil der schnell zu Reichtum
gekommenen sowie der vorwiegend durch Handel überlebenden, meist integrierten
Roma-Gruppen steht faktisch die große Mehrheit der von den Erwerbsstrukturen
ausgeschlossenen und auf alternative Einnahmequellen zurückgreifenden
Volksgruppenangehörigen gegenüber.
Charakteristika der aus der Armut resultierenden spezifischen Lebensform sind
eine marginalisierte Siedlungsweise in Elendsvierteln am Rande von Städten und
Dörfern oder gar auf Mülldeponien, die Knappheit lebenswichtiger Ressourcen wie
Nahrungsmittel und Kleidung, ein unregelmäßiges, äußerst niedriges Einkommen
oder auch die existentielle Abhängigkeit von Kindergeld. Weitere Merkmale sind
ein Leben mit unbehandelten Krankheiten wie Tuberkulose und Erkrankungen des
Magen-Darm-Traktes, eine hohe Kinderzahl, Alkoholismus, Resignation und die
Erwartung finanzieller Hilfe aus dem westlichen Ausland. Gleichwohl ist
feststellbar, daß die sich anhand der genannten Merkmale manifestierende
Subkultur keineswegs ein ausschließlich auf die Volksgruppe der Roma
beschränktes Charakteristikum darstellt. Vielmehr handelt es sich um aus Armut
und sozialer Benachteiligung hervorgehende Lebensumstände, welchen, allerdings
in deutlich geringerem Ausmaß, auch Angehörige der Mehrheitsbevölkerung und
anderer Ethnien ausgesetzt sind.
Am Beispiel der mehr als 400 Roma-Bewohner der Mülldeponie Pata Rît am Rande der
siebenbürgischen Stadt Cluj-Napoca läßt sich die Verstärkung der
Marginalisierung infolge des Systemwechsels veranschaulichen. Die Anwohner,
romanisierte Roma, welche während des Sozialismus mehrheitlich als Landarbeiter
beschäftigt waren und über staatlichen Wohnraum verfügten, verloren infolge der
Umstrukturierung des Agrarsektors und der Privatisierung von Grund und Boden
ihre Arbeit, ihre Wohnung und ihre Existenzgrundlage. Da die Mülldeponie kein
offiziell registriertes Domizil darstellt, können die für den Schulbesuch sowie
den Zugang zu unterschiedlichen Formen der Sozialunterstützung notwendigen
Personalien nicht beschafft werden. Der Verkauf recycelbarer Materialien wie
Flaschen an staatliche Sammelstellen stellt die einzige finanzielle
Überlebensgrundlage der Roma von Pata Rît dar. Die Siedlung ist nicht an die
Strom- und Wasserversorgung angeschlossen; sämtliche aus Altmaterialien
notdürftig zusammengeflickte Baracken sind unbeheizt. Die Bewohner ernähren sich
von Abfällen. Häufig auftretende Erkrankungen wie Tuberkulose, Asthma und
Magen-Darm-Infektionen bleiben infolge des Fehlens der für den Zugang zu
beitragsfreier Krankenversicherung erforderlichen persönlichen Dokumente,
fehlender finanzieller Möglichkeiten der Betroffenen sowie vor dem Hintergrund
bestehender Vorurteile medizinischen Personals und verbreiteter Verweigerungen
gegenüber der Versorgung von Roma meist unbehandelt. Dementsprechend erreichen
nur wenige Bewohner ein Lebensalter von mehr als 60 Jahren. Ein Charakteristikum
der ansässigen Familien stellt deren hohe Kinderzahl (durchschnittlich 4 - 5 und
bis zu 10 Kinder) dar. Wegen fehlender Personalien wie Geburtsurkunden oder
Nachweisen eines festen Wohnsitzes erfüllt der Großteil dieser Kinder nicht die
zum Besuch einer Schule notwendigen Voraussetzungen, folglich sind ihre Eltern
formal nicht zum Empfang von Kindergeld berechtigt.
Psychische Folgeerscheinungen dieser in vielen Elendsvierteln im ganzen Lande zu
beobachtenden Lebensbedingungen sind Lethargie, Verbitterung, Hoffnungslosigkeit
und das Fehlen jeglicher Zukunftsperspektiven. Die Lebensgewohnheiten
marginalisierter Roma-Gemeinschaften laufen den Werten und Normen der
Mehrheitsbevölkerung zuwider, Ausgrenzungsmechanismen entstehen und verstärken
sich, womit sich der Teufelskreis aus Armut und Ausgrenzung schließt. Die
existentielle Notlage der Mehrheit der rumänischen Roma resultiert aus einer vor
dem Hintergrund der Folgeerscheinungen des Systemwechsels zu bewertenden
Vielzahl an sozioökonomischen und bildungspolitischen Faktoren und
Ausgrenzungsmechanismen und kann nicht als Konsequenz einer ausschließlich
kulturell bedingten "Anpassungsunfähigkeit" der Roma an die Lebensweise der
Mehrheitsbevölkerung betrachtet werden.
Innerhalb der rumänischen Bevölkerung, aber auch in den anderen Ländern des
europäischen Kontinents sind mit dem Begriff des "Zigeuners" viele
unterschiedliche Wahrnehmungen verbunden. Aufgrund der Tatsache, daß die
überwiegende Mehrheit der Roma-Gemeinschaften der untersten sozialen Schicht
angehört und sich dieser soziale Status in Wohn- und Lebensweise manifestiert,
prägen insbesondere die offensichtliche Armut sowie der traditionelle
Kinderreichtum die Perzeption der Bevölkerungsmehrheit. Die mit der Subkultur
der Armut einhergehenden Überlebensstrategien lösen zahlreiche auf die gesamte
Volksgruppe projizierte Ängste, welche sich primär auf die allen Roma
unterstellte Kriminalität zentrieren, aus. Die Lebensformen der
Unterprivilegierten werden als spezifische "Roma-Kultur" angesehen, was die
gesellschaftliche Ausgrenzung der als soziale Randgruppe und kaum als
eigenständige Ethnie wahrgenommenen Volksgruppe zur Folge hat. Die allgemeine
Perzeption von Roma als homogene soziale Randgruppe erleichtert die
Übertragbarkeit von Vorurteilen auf die Gesamtheit der Gemeinschaften. Negative
Eigenschaften wie die der Kriminalität, der Unsauberkeit, der Faulheit und der
Gewaltbereitschaft gelten als charakteristisch für die Ethnie. Parallel wird die
Legende des durch illegale, auf Kosten der "ehrlichen" Mehrheitsbevölkerung
betriebene Machenschaften zu Wohlstand gekommenen "reichen Zigeuners" innerhalb
der Gesellschaft über Generationen hinweg weitergegeben und löst
Bedrohungsgefühle und Abgrenzungsmechanismen aus. Die Verwendung von dem
Tierreich entlehnten Metaphern als Synonyme für Roma ist in der Alltagssprache
verankert. So stellen Bezeichnungen wie "Krähe", "Star" oder "Schwarze"
gebräuchliche, auf die verbreitet dunklere Hautfarbe der Volksgruppenmitglieder
bezogene Verunglimpfungen dar. Immer wieder wird den Roma sowohl auf
gesellschaftlicher als auch auf politischer Ebene auf der Grundlage der ihnen
zugeschriebenen Negativeigenschaften direkt oder indirekt die Verantwortung für
Mißstände wie steigende Kriminalitätsraten oder materielle Mangelsituationen
übertragen.
Faktisch stellen Ausgrenzung und Diskriminierung von Roma seit Jahrhunderten
bestehende und sich in deren niedrigem sozialen Status sowie der Ignoranz, den
Assimilationsversuchen und der offenen Verfolgung seitens der
Mehrheitsbevölkerung widerspiegelnde historische Kontinuitäten dar. Beispielhaft
seien die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts währende Versklavung rumänischer
Roma-Gemeinschaften, die Deportation Tausender Roma und deren Ermordung durch
das faschistische Antonescu-Regime sowie die alle Lebensbereiche erfassende
soziale Diskriminierung während des Sozialismus genannt.
Eine institutionalisierte Diskriminierung existiert in Rumänien nicht. Seit
1989/90 läßt sich jedoch neben der drastischen Verschlechterung der
Lebensbedingungen auch das Auftreten und die Verstärkung unterschiedlichster
direkter und indirekter Diskriminierungsformen feststellen. So verweisen
zahlreiche Zeitungsberichte über von Roma begangene Straftaten ausdrücklich auf
deren Volksgruppenzugehörigkeit (Romi oder Tigani) und greifen damit das
gesellschaftliche Vorurteil der "Roma-Kriminalität" auf. Hingegen unterbleiben
bei Verdächtigen anderer Volksgruppenzugehörigkeit Verweise auf deren Ethnizität.
Immer wieder finden sich in auflagenstarken Printmedien reißerisch gestaltete
Artikel, welche die vermeintliche Gefährlichkeit "der" Roma unterstreichen und
die gesamte Ethnie als delinquent erscheinen lassen. Kriminalität, zweifellos
innerhalb der Roma-Gemeinschaften vorhanden, wird direkt oder indirekt als
spezifische Charaktereigenschaft von Roma dargestellt, was innerhalb der
Mehrheitsbevölkerung Mißtrauen, Angst oder gar Haß erzeugt. Auch wurden in
Stellenausschreibungen großer Tageszeitungen Roma wiederholt ausdrücklich als
potentielle Bewerber ausgeschlossen. Fremdenfeindliche, nationalistische
Publikationen wie die nach der extremistischen Partei Corneliu Vadim Tudors
benannte Zeitung "România Mare" (Groß-Rumänien) oder auch Veröffentlichungen der
extrem nationalistisch orientierten Organisation "Vatra Româneasca" (Rumänische
Heimstatt) berufen sich auf die kulturelle, religiöse und sprachliche Einheit
als Basis des "Rumänentums". Sie betreiben insbesondere gegen Ungarn und Roma
mittels deren Darstellung als den "rumänischen" Werten widersprechende
potentielle Gefahrenfaktoren immer wieder aggressive Hetzcampagnen. Die
Großrumänien-Partei forderte bereits die Einweisung "arbeitsscheuer Zigeuner" in
Reservate sowie deren Heranziehung zur Zwangsarbeit und trägt damit, wie auch
andere fremdenfeindliche Verbände (so z.B. die "Neue Rechte"), zur Entstehung
und Verfestigung von Vorurteilen und gegenseitiger Abgrenzung bei. Der Einfluß
nationalistischer und minderheitenfeindlicher Parolen darf angesichts der
eklatanten sozioökonomischen Probleme des Landes und der noch immer
unzureichenden gesamtgesellschaftlichen Verankerung demokratischer Werte in
seinen Auswirkungen auf die Mehrheitsbevölkerung nicht unterschätzt werden und
bedroht die Umsetzung einer bedürfnisorientierten, auf faktische
Gleichberechtigung zielenden Minderheitenpolitik.
Infolge der Parlamentswahlen des Jahres 2000 wurde die Großrumänien-Partei mit
ihrer fremdenfeindlichen und nationalistischen Wahlcampagne zur mit Abstand
zweitstärksten parlamentarischen Kraft. Der Einfluß romafeindlicher Propaganda
manifestiert sich auch daran, daß einer repräsentativen Umfrage vom November
2001 zufolge knapp 60% der ethnischen Rumänen die Beziehungen ihrer Volksgruppe
zu den Roma als konfliktträchtig oder als von gegenseitiger Ignoranz
gekennzeichnet betrachten, wobei sich dieser Anteil bei der Bewertung der
individuellen Erfahrungen im eigenen Wohngebiet auf 44% verringert.6)
Neben unterschiedlichen Formen der verbalen und psychischen Diskriminierung
registrierten Menschenrechtsorganisationen insbesondere vom Beginn bis in die
Mitte der 90er Jahre im ganzen Lande gegen Roma oder gar gegen ganze
Roma-Gemeinschaften gerichtete gewalttätige Ausschreitungen, welche
Menschenleben forderten. Der Auslöser bestand meist in einem durch Roma gegen
Angehörige der Mehrheitsbevölkerung verübten Vergehen, worauf eine aufgebrachte,
mehrheitlich aus ethnischen Rumänen zusammengesetzte Menschenmenge mit
kollektiver Schuldzuweisung oder gar Lynchjustiz reagierte. Häuser wurden
angezündet, Roma bedroht, des Ortes vertrieben oder gar gelyncht. Die
Gewaltausbrüche gegen Roma stellten neben ökonomischen Motiven bedeutende Gründe
der Abwanderung Tausender Roma ins westliche Ausland dar, wo viele der dort
vielerorts als "Elendsflüchtlinge" bezeichneten Migranten mit Vorurteilen und
Feindseligkeit konfrontiert wurden. Neben den bis heute verbreiteten Übergriffen
durch Einzelpersonen berichten Menschenrechtsorganisationen immer wieder von
gegen Roma angewandter Polizeigewalt. Diese äußert sich anhand willkürlich
durchgeführter Razzien, tätlicher Ausschreitungen und mangelhaft begründeter
Festnahmen. Aufgrund unzureichender polizeilicher Ermittlungen, eingestellter
Strafverfahren und der bis zum Ende des Jahres 2001 noch unzureichenden
gesetzlichen Bestimmungen zur Bekämpfung von Diskriminierungsformen bleibt die
Strafverfolgung meist aus. Darüber hinaus erregen die verbreiteten, durch lokale
Behördenvertreter angeordneten Zwangsräumungen von Wohnraum der Roma Aufsehen.
Vorgebliche Gründe dieser durch Polizeieinheiten häufig unter Anwendung von
Gewalt und massiver Einschüchterung vollstreckten Anordnungen sind das Fehlen
einer ausreichenden Infrastruktur in den betroffenen Gebäuden, die illegale
Besetzung von Wohnraum oder auch die "unzivilisierte" Lebensweise der
Betroffenen. Obwohl diese Zwangsräumungen mehrfach durch
Nichtregierungsorganisationen verhindert werden konnten (Z.B. in Piatra Neamt
und Brasov), wurden allein in Bukarest Dutzende Roma infolge der Ausweisung aus
den Wohnungen und der Zerstörung des Wohnraums durch Bulldozer obdachlos.
Obwohl infolge der nach 1989/90 verankerten Rechte der Meinungs- und
Organisationsfreiheit, der Teilnahme an Wahlen und der Bildung ethnospezifischer
Organisationen ein breites Spektrum politischer und gesellschaftlicher
Roma-Verbände entstand, verfügt die Roma-Minderheit nicht über eine allgemein
anerkannte und demokratisch legitimierte politische Interessenvertretung. Die
Folgeerscheinungen der Heterogenität dieser in zahlreiche Subgruppierungen
unterteilten Ethnie sowie unterschiedlichste sozioökonomische, kulturelle und
bildungspolitische Faktoren erschweren die Herausbildung einer
gruppenübergreifend anerkannten, handlungsfähigen Führungselite sowie die
Verbesserung der politischen Partizipation erheblich. Infolgedessen bleibt die
Volksgruppe mit einem einzigen Abgeordneten der "Roma-Partei" auch im Jahre 2002
parlamentarisch unterrepräsentiert und ist schwerlich zur Artikulation und
Durchsetzung von Forderungen im Rahmen politischer Entscheidungsprozesse in der
Lage. Angesichts dieser Tatsache leisten die schwerpunktmäßig auf
Schlüsselbereiche der Gesamtsituation wie das Bildungswesen und den Gesundheits-
und Sozialbereich zentrierten Projekte der auf gesellschaftlicher Ebene tätigen
Roma-Verbände wichtige Beiträge zur Verbesserung materieller Lebensbedingungen,
zur Stärkung eines Volksgruppenbewußtseins und zur Bekämpfung von
Konfliktpotentialen.
Im April des Jahres 2001 wurden mit der Verabschiedung einer durch
Roma-Vertreter und Repräsentanten der Exekutive erarbeiteten Regierungsstrategie
zur Verbesserung der Gesamtsituation der rumänischen Roma auf politischer Ebene
vor dem Hintergrund des angestrebten Beitritts zur Europäischen Union Zeichen
eines neuen Problembewußtseins gesetzt. Die Identifikation der wichtigsten
Kernbereiche der Roma-Situation sowie die Formulierung von Teilzielen spiegeln
die Erkenntnis wider, daß einzig die Einbindung vielfältiger politischer,
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Segmente des Staatsgefüges in die
Entwicklung von Lösungsansätzen der Vielschichtigkeit der Problematik gerecht
wird. Mit der Verabschiedung der Strategie hat das Land ein wichtiges
Beitrittskriterium der Europäischen Union erfüllt, sodaß die Programmatik auch
vor dem Hintergrund der pragmatischen Interessen der rumänischen Regierung
betrachtet werden muß. Der Erfolg der einen Implementationszeitraum von zehn
Jahren aufweisenden Strategie wird von der Phase der Projektentwicklung und von
der an die Handlungsbereitschaft und Kompromißfähigkeit aller involvierten
Akteure sowie an die Möglichkeiten der Bereitstellung der erforderlichen
finanziellen und personellen Ressourcen gebundenen Umsetzung abhängen. Die
Umsetzung gerät jedoch unter anderem dadurch, daß innerhalb der Strategie der
konkrete finanzielle Rahmen der zu implementierenden Programme sowie die
Herkunft der finanziellen Ressourcen nicht benannt werden und die Strategie
anstelle von Projekten schwerpunktmäßig Zielvorgaben enthält, in Gefahr.
Befürchtet werden muß daher, daß der Implementationsprozeß dieser Strategie in
der Planungsphase der Projekte stecken bleibt und die erforderlichen
finanziellen Ressourcen, welche zwar teilweise, jedoch nicht vollständig durch
supranationale Organisationen wie die EU und die UN gedeckt werden, durch den
rumänischen Staat nicht zur Verfügung gestellt werden können.
Hinsichtlich der aktuellen Situation muß festgestellt werden, daß den nach
Rumänien abgeschobenen Roma jegliche Perspektiven des Aufbaus einer gesicherten,
an die Ermöglichung gleichberechtigter Zugangschancen zu den vorhandenen
sozioökonomischen Ressourcen gebundenen Existenz genommen werden. Logische
Folgen stellen Ausbruchsversuche aus dem Teufelskreis von Armut und Ausgrenzung
mittels der Übernahme mehr oder weniger legaler Überlebensstrategien oder der
erneuten Flucht ins westliche Ausland dar.
Anmerkungen:
1) Volkszählungen vermögen
wegen stark variierenden Identifikationsmustern und Anpassungsformen der Roma
an die Mehrheitsgesellschaft die tatsächliche Bevölkerungsgröße dieser Ethnie
nicht widerzuspiegeln.
2) Vgl. dazu Mihok, Brigitte: Vergleichende Studie zur Situation der
Minderheiten in Ungarn und Rumänien (1989 - 1996) unter besonderer
Berücksichtigung der Roma. Frankfurt a.M., Berlin, Bern u.a. 1999, S.149
3) Vgl. Boden, Martina: Osteuropa: Eine kleine politische Länderkunde. 2.Aufl.,
Landsberg 1998, S.187 und Economist Intelligence Unit (EIU): Country Report 1st
quarter 2000, S.3 und S.25.
4) Vgl. EIU Country Report, April 2000, S.25 und OECD Economic Survey 1998,
S.16/17.
Zamfir, Elena; Zamfir, Catalin: Tiganii - între ignorare si ingrijorare.
Bucuresti 1993, S.107- 109.
5) Vgl. Centrul de Resurse pentru Diversitate Etnoculturala: Barometrul
Relatiilor Interetnice, Noiembrie 2001.
Cluj-Napoca 2001, S.43. Aufgrund der Tatsache, daß mangels exakten statistischem
Materials keine genauen Angaben zur Arbeitslosigkeit innerhalb der
Roma-Bevölkerung möglich sind, sind die genannten Werte unter Vorbehalt zu
betrachten und können lediglich einen Eindruck von der Größenordnung der
Arbeitslosigkeit vermitteln (Anm. d. Verfasserin).
6) Vgl. Barometrul Relatiilor Interetnice 2001, S.21/22.
Marburg,
April 2002
(Die Autorin promoviert am
Institut für Politikwissenschaft der Universität Marburg mit einer
vergleichenden Analyse zur Minderheitensituation der Roma in Rumänien und
Bulgarien)
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