"Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen, ohne
Muskeln und ohne Fett. Entzündungen und Krätze bedeckten die unterernährten
Körper. Die Kiefer waren ausgehöhlt, Zunge und Zähne konnte man durch die Löcher
in den Wangen sehen. Bis spät in die Nacht hörte ich ihre Schreie und wußte, daß
sie sich wehrten. Die Zigeuner schrieen die ganze Nacht. Sie haben bis zuletzt
um ihr Leben gekämpft."
Ich beginne mit dem Zitat über den Zustand des sogenannten "Zigeunerlagers"
Auschwitz und über das Grauen in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 die
Kundgebung anlässlich des 59. Jahrestages der Liquidation des Lagers. Roma und
Sinti widerfährt, wenn es um Entschädigung oder Erinnerung geht, immer noch der
blanke Rassismus, der in seiner endgültigen Konsequenz in Nazi-Deutschland vor
allem Juden, Roma und Sinti das Menschsein absprach und sie der industriellen
Vernichtung unterzog. Und dies mit ruhigem Gewissen und der grundsätzlichen
Überzeugung, richtig zu handeln.
Am 2. August 1944 fand die vorausgegangene Verfolgung, Demütigung, Internierung,
die Vermessung, die Begutachtung und die Deportation der Roma und Sinti einen
bestialischen Höhepunkt. Bereits 1935 hieß es in einem Kommentar zu den
Nürnberger Rassegesetzen: "Artfremdes Blut sind in Europa regelmäßig nur die
Juden und die Zigeuner". Das war das Todesurteil, bereits 10 Jahre vor der
Liquidation des "Zigeunerlagers".
In der Nacht vom 2. auf den 3. August wurden über 2900 Roma und Sinti, Kinder,
Alte, Kranke, Frauen und Männer in den Gaskammern des Vernichtungslagers
Auschwitz/Birkenau ermordet.
Mit kühler Berechnung, einem gut funktionierenden bürokratischen Apparat, einer
Ideologie, die die Roma aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen hat und
mit der offenen oder schweigenden Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung, wurden während der NS-Zeit eine halbe Million Roma und Sinti
ermordet. Sie wurden ebenso wie die Millionen Juden wie Ungeziefer behandelt,
schufteten sich zu Tode, starben qualvoll an medizinischen Experimenten oder
wurden gleich ins Gas geschickt. Das "Zigeunerlager" Auschwitz war nur eine -
wenn auch die fürchterlichste - Todesstätte von vielen.
Schon im Mai des Jahres 1944 versuchte die SS 6000 Roma und Sinti des
"Zigeunerlagers" in den Gaskammern von Auschwitz in einer generalstabsmäßigen
Aktion zu ermorden. Mit Spaten, Steinen und den nackten Händen haben sich die
Roma und Sinti dagegen zur Wehr gesetzt. Die Aktion wurde verschoben und viele
der Widerständler in andere Lager verfrachtet, wo sie später getötet wurden.
Widersetzt haben sich Roma und Sinti - soweit möglich - auch in allen anderen
Bereichen, gegen die Erfassung durch die "Rassenhygienischen Forschungsstelle",
gegen die tausendfache Diskriminierung im Zivilleben und auch als Partisanen
gegen Wehrmacht und SS.
Ein Teil des Widerstandes fand Platz in der "Gedenkstätte Deutscher Widerstand"
in Berlin. Eine Ausstellung, die übrigens auch den Kripo- und SS-Funktionär
Arthur Nebe als Widerstandskämpfer ehrt. Nebe war eine der leitenden Figuren der
kriminalpolizeilichen Erfassung und Verfolgung von Roma und Sinti. Er hat wie
etliche andere die Voraussetzung für Deportation und Vernichtung geschaffen.
Roma Organisationen haben wiederholt am 2. August in Auschwitz zum Ausdruck
gebracht, den Tag der Liquidation des "Zigeunerlagers" als internationalen und
bundesweiten Gedenktag an die Vernichtung von Roma und Sinti einzurichten.
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Im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main waren nach 1945 zwei maßgebliche
NS-Rassenforscher, nämlich Robert Ritter, Leiter des bevölkerungsbiologischen
Instituts und der rassenhygienischen Forschungsstelle in Berlin und seine
Assistentin Eva Justin, tätig. Eva Justin schrieb ihre Doktorarbeit über
Sinti-Kinder. Nach Abschluß ihrer Studien wurden bis auf drei Kinder alle in
Auschwitz ermordet. Ritter und Justin forschten - so nannte man die Verbrechen -
schon in den 30iger Jahren zum Thema "Zigeuner".
Sie suchten die Menschen auf. Justin beherrschte ihre Sprache. Sie vermaßen die
Roma und Sinti, erstellten „erbbiologische Gutachten“ mit dem Ergebnis, dass es
Untermenschen wären und bezeichneten sie als primitiv, kriminell, asozial und
Schädlinge. Daten von mehr als 25.000 Roma und Sinti hatte das Berliner Institut
gesammelt. Dies ging nur über eine reichsweite enge Zusammenarbeit mit den
Fürsorgeämtern, dem auch das Stadtgesundheitsamt Ffm. angegliedert war, den
Meldestellen, den Pfarrämtern und der Kriminalpolizei.
Unabhängig vom Berliner Institut wurde auch im Frankfurter Stadtgesundheitsamt
eine Erbkartei angelegt, die die in ihr erfaßten 300.000 Personen unter der
Rubrik "sonst artfremd" auch nach "Zigeunern" einordnete.
Daneben existierte das Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene
des Prof. Ottmar Freiherr von Verschuer, einer der führenden "Rassentheoretiker"
der Nazis. Die Erbkarteien hatten das Ziel, "Ballastexistenzen" und "artfremdes
Blut" auszusondern und die Menschen in Anstalten zwangseinzuweisen, der
Zwangssterilisation zu unterziehen oder letztlich zu ermorden. Die Abteilung für
Erb- und Rassenpflege im Stadtgesundheitsamt Ffm. kooperierte, ich zitiere "eng
mit allen amtlichen und nicht amtlichen Einrichtungen des Frankfurter
Gesundheits- und Fürsorgewesens. Durch ihren bürokratischen Eifer halfen die
Verantwortlichen die rassenhygienische Vorstellungen von "Auslese" und
"Ausmerze" effektiv in die Praxis umzusetzen." Die Erbkartei samt Archiv befand
sich bis 1983 im Keller des Stadtgesundheitsamtes. Es ist nicht auszuschließen,
daß auch nach 1945, ebenso wie man bei der Reorganisation des Amtes auf "alte
Kräfte" zurückgriff, der enorme Datenbestand von 330.000 Akten weiter benutzt
wurde.
Die Kategorisierung, Erfassung, Bewertung und Internierung von Roma und Sinti in
den verschiedensten Lagern, wie in Frankfurt Bockenheim oder Fechenheim, waren
die Vorstufe zur Deportation und schließlich zur Vernichtung.
Obwohl es bekannt war, welche Funktionen Ritter und Justin im
Nationalsozialismus inne hatten, konnten sie nach 1945 bedenkenlos
weiterarbeiten. In seiner Bewerbung als Stadtjugendarzt und Leiter der
Jugendsichtungsstelle im Mai 1947 bekräftigte Ritter, er wolle prüfen, ob die
auffällig gewordenen Jugendlichen mehr durch ungünstige Umweltverhältnisse
verwahrlost seien oder mehr durch charakterliche Eigenarten zur Asozialität bzw.
Kriminalität neigten. Ich betone, diese Stellungnahme bezog Ritter zwei Jahre
nach dem mittlerweile allen bekannten Genozid an Juden, Roma und Sinti. Seine
Mitarbeiterin Eva Justin untersuchte kurzzeitig in den 60er Jahren noch die
Lebensbedingungen von Wohnsitzlosen auf dem Bonameser Standplatz. Dort hielten
sich auch Roma und Sinti auf.
Für ihr Tun wurden sie nicht zur Rechenschaft gezogen.
Im Gegenteil, vielen Opfern wurde jede Form der Entschädigung - soweit man davon
überhaupt reden kann - versagt. Es gab Familien, deren Klageverfahren von denen
begutachtet worden sind, die sie ins KZ gebracht haben. Selbst in der jüngsten
Vergangenheit mußten sich Roma- und Sintiverbände dafür einsetzen, in
Entschädigungsverfahren für Zwangsarbeit berücksichtigt zu werden und in den
Entscheidungsgremien mitarbeiten zu können.
Die gesellschaftliche Haltung gegenüber Roma und Sinti spiegelt sich in der
Geschichte der Mahntafel am Stadtgesundheitsamt. Über zehn Jahre hinweg
engagierten sich die Roma-Union, der Förderverein und verschiedene Unterstützer
für die Anbringung der Tafel. Die Argumentation der Verhinderer mündete vor
allem darin, doch die Persönlichkeitsrechte der Täter zu wahren. Die Rechte der
Opfer, die Tatsache, dass ein Verbrechen und die exemplarische Kontinuität nach
45 unbenannt blieb, spielte keine Rolle. Allein die Beharrlichkeit der Roma und
der internationale Druck veranlasste die politisch Verantwortlichen letztendlich
zur Anbringung dieser Tafel.
Akzeptanz, Einsicht und Verantwortung aus der eigenen Geschichte oder kritische
Reflexion haben bei der erschlagenden Mehrheit der Bevölkerung beileibe nicht
eingesetzt.
Derzeit werden beispielsweise Roma-Flüchtlinge ungeachtet der desolaten
Situation in Jugoslawien oder den nachgewiesenen Diskriminierungen und der
Chancenlosigkeit in Rumänien und ohne Achtung dessen, dass die Familien seit
vielen Jahren hier leben, Kinder in Deutschland geboren sind, rücksichtslos
ausgewiesen. Im Kosovo wurden unter den Augen der Vereinten Nationen Roma
vertrieben und ermordet. Roma-Flüchtlingen aus Macedonien wird Zuflucht in den
EU-Ländern verweigert. Es sind tödliche Anschläge und Überfälle auf Roma in
Tschechien, der Slovakei und Bulgarien dokumentiert. Durch einen Giftanschlag in
der Ukraine wurde eine Roma-Familie ermordet. Die Ignoranz und die
durchdringende rassistische Haltung ist überwiegend dominant, sie bricht sich
zunehmend und schamlos Bahn. Niemand riskiert etwas und es gehört schon zum
guten Ton, über Roma, sprich Zigeuner, in alter Manier herzuziehen. In der
Flüchtlings-Beratung des Fördervereins wird deutlicher denn je, dass es am
anderen Ende der Leitung Ansprechpersonen gibt, die bewusst und mit Vorsatz
schikanieren und sich das konsequenzlos leisten können.
Der Förderverein Roma setzt sich zur Zeit vor allem für ein Bleiberecht der Roma
aus Rumänien ein. Insbesondere den Kindern und Jugendlichen soll auch weiterhin
die Chance eröffnet bleiben, durch den Besuch unserer Kindertagesstätte, des
Schulprogramms und des Beschäftigungsprojekts sich eine selbstbestimmte Zukunft
aufbauen zu können.
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