Rede zum 59. Gedenktag an die
Liquidierung des "Zigeunerlagers" Auschwitz
(Ffm,Stadtgesundheitsamt, 02.08.2003
)

"Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen, ohne Muskeln und ohne Fett. Entzündungen und Krätze bedeckten die unterernährten Körper. Die Kiefer waren ausgehöhlt, Zunge und Zähne konnte man durch die Löcher in den Wangen sehen. Bis spät in die Nacht hörte ich ihre Schreie und wußte, daß sie sich wehrten. Die Zigeuner schrieen die ganze Nacht. Sie haben bis zuletzt um ihr Leben gekämpft."

Ich beginne mit dem Zitat über den Zustand des sogenannten "Zigeunerlagers" Auschwitz und über das Grauen in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 die Kundgebung anlässlich des 59. Jahrestages der Liquidation des Lagers. Roma und Sinti widerfährt, wenn es um Entschädigung oder Erinnerung geht, immer noch der blanke Rassismus, der in seiner endgültigen Konsequenz in Nazi-Deutschland vor allem Juden, Roma und Sinti das Menschsein absprach und sie der industriellen Vernichtung unterzog. Und dies mit ruhigem Gewissen und der grundsätzlichen Überzeugung, richtig zu handeln.

Am 2. August 1944 fand die vorausgegangene Verfolgung, Demütigung, Internierung, die Vermessung, die Begutachtung und die Deportation der Roma und Sinti einen bestialischen Höhepunkt. Bereits 1935 hieß es in einem Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen: "Artfremdes Blut sind in Europa regelmäßig nur die Juden und die Zigeuner". Das war das Todesurteil, bereits 10 Jahre vor der Liquidation des "Zigeunerlagers".

In der Nacht vom 2. auf den 3. August wurden über 2900 Roma und Sinti, Kinder, Alte, Kranke, Frauen und Männer in den Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz/Birkenau ermordet.

Mit kühler Berechnung, einem gut funktionierenden bürokratischen Apparat, einer Ideologie, die die Roma aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen hat und mit der offenen oder schweigenden Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, wurden während der NS-Zeit eine halbe Million Roma und Sinti ermordet. Sie wurden ebenso wie die Millionen Juden wie Ungeziefer behandelt, schufteten sich zu Tode, starben qualvoll an medizinischen Experimenten oder wurden gleich ins Gas geschickt. Das "Zigeunerlager" Auschwitz war nur eine - wenn auch die fürchterlichste - Todesstätte von vielen.

Schon im Mai des Jahres 1944 versuchte die SS 6000 Roma und Sinti des "Zigeunerlagers" in den Gaskammern von Auschwitz in einer generalstabsmäßigen Aktion zu ermorden. Mit Spaten, Steinen und den nackten Händen haben sich die Roma und Sinti dagegen zur Wehr gesetzt. Die Aktion wurde verschoben und viele der Widerständler in andere Lager verfrachtet, wo sie später getötet wurden. Widersetzt haben sich Roma und Sinti - soweit möglich - auch in allen anderen Bereichen, gegen die Erfassung durch die "Rassenhygienischen Forschungsstelle", gegen die tausendfache Diskriminierung im Zivilleben und auch als Partisanen gegen Wehrmacht und SS.

Ein Teil des Widerstandes fand Platz in der "Gedenkstätte Deutscher Widerstand" in Berlin. Eine Ausstellung, die übrigens auch den Kripo- und SS-Funktionär Arthur Nebe als Widerstandskämpfer ehrt. Nebe war eine der leitenden Figuren der kriminalpolizeilichen Erfassung und Verfolgung von Roma und Sinti. Er hat wie etliche andere die Voraussetzung für Deportation und Vernichtung geschaffen.

Roma Organisationen haben wiederholt am 2. August in Auschwitz zum Ausdruck gebracht, den Tag der Liquidation des "Zigeunerlagers" als internationalen und bundesweiten Gedenktag an die Vernichtung von Roma und Sinti einzurichten.
 


Im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main waren nach 1945 zwei maßgebliche NS-Rassenforscher, nämlich Robert Ritter, Leiter des bevölkerungsbiologischen Instituts und der rassenhygienischen Forschungsstelle in Berlin und seine Assistentin Eva Justin, tätig. Eva Justin schrieb ihre Doktorarbeit über Sinti-Kinder. Nach Abschluß ihrer Studien wurden bis auf drei Kinder alle in Auschwitz ermordet. Ritter und Justin forschten - so nannte man die Verbrechen - schon in den 30iger Jahren zum Thema "Zigeuner".

Sie suchten die Menschen auf. Justin beherrschte ihre Sprache. Sie vermaßen die Roma und Sinti, erstellten „erbbiologische Gutachten“ mit dem Ergebnis, dass es Untermenschen wären und bezeichneten sie als primitiv, kriminell, asozial und Schädlinge. Daten von mehr als 25.000 Roma und Sinti hatte das Berliner Institut gesammelt. Dies ging nur über eine reichsweite enge Zusammenarbeit mit den Fürsorgeämtern, dem auch das Stadtgesundheitsamt Ffm. angegliedert war, den Meldestellen, den Pfarrämtern und der Kriminalpolizei.

Unabhängig vom Berliner Institut wurde auch im Frankfurter Stadtgesundheitsamt eine Erbkartei angelegt, die die in ihr erfaßten 300.000 Personen unter der Rubrik "sonst artfremd" auch nach "Zigeunern" einordnete.

Daneben existierte das Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene des Prof. Ottmar Freiherr von Verschuer, einer der führenden "Rassentheoretiker" der Nazis. Die Erbkarteien hatten das Ziel, "Ballastexistenzen" und "artfremdes Blut" auszusondern und die Menschen in Anstalten zwangseinzuweisen, der Zwangssterilisation zu unterziehen oder letztlich zu ermorden. Die Abteilung für Erb- und Rassenpflege im Stadtgesundheitsamt Ffm. kooperierte, ich zitiere "eng mit allen amtlichen und nicht amtlichen Einrichtungen des Frankfurter Gesundheits- und Fürsorgewesens. Durch ihren bürokratischen Eifer halfen die Verantwortlichen die rassenhygienische Vorstellungen von "Auslese" und "Ausmerze" effektiv in die Praxis umzusetzen." Die Erbkartei samt Archiv befand sich bis 1983 im Keller des Stadtgesundheitsamtes. Es ist nicht auszuschließen, daß auch nach 1945, ebenso wie man bei der Reorganisation des Amtes auf "alte Kräfte" zurückgriff, der enorme Datenbestand von 330.000 Akten weiter benutzt wurde.

Die Kategorisierung, Erfassung, Bewertung und Internierung von Roma und Sinti in den verschiedensten Lagern, wie in Frankfurt Bockenheim oder Fechenheim, waren die Vorstufe zur Deportation und schließlich zur Vernichtung.

Obwohl es bekannt war, welche Funktionen Ritter und Justin im Nationalsozialismus inne hatten, konnten sie nach 1945 bedenkenlos weiterarbeiten. In seiner Bewerbung als Stadtjugendarzt und Leiter der Jugendsichtungsstelle im Mai 1947 bekräftigte Ritter, er wolle prüfen, ob die auffällig gewordenen Jugendlichen mehr durch ungünstige Umweltverhältnisse verwahrlost seien oder mehr durch charakterliche Eigenarten zur Asozialität bzw. Kriminalität neigten. Ich betone, diese Stellungnahme bezog Ritter zwei Jahre nach dem mittlerweile allen bekannten Genozid an Juden, Roma und Sinti. Seine Mitarbeiterin Eva Justin untersuchte kurzzeitig in den 60er Jahren noch die Lebensbedingungen von Wohnsitzlosen auf dem Bonameser Standplatz. Dort hielten sich auch Roma und Sinti auf.

Für ihr Tun wurden sie nicht zur Rechenschaft gezogen.

Im Gegenteil, vielen Opfern wurde jede Form der Entschädigung - soweit man davon überhaupt reden kann - versagt. Es gab Familien, deren Klageverfahren von denen begutachtet worden sind, die sie ins KZ gebracht haben. Selbst in der jüngsten Vergangenheit mußten sich Roma- und Sintiverbände dafür einsetzen, in Entschädigungsverfahren für Zwangsarbeit berücksichtigt zu werden und in den Entscheidungsgremien mitarbeiten zu können.

Die gesellschaftliche Haltung gegenüber Roma und Sinti spiegelt sich in der Geschichte der Mahntafel am Stadtgesundheitsamt. Über zehn Jahre hinweg engagierten sich die Roma-Union, der Förderverein und verschiedene Unterstützer für die Anbringung der Tafel. Die Argumentation der Verhinderer mündete vor allem darin, doch die Persönlichkeitsrechte der Täter zu wahren. Die Rechte der Opfer, die Tatsache, dass ein Verbrechen und die exemplarische Kontinuität nach 45 unbenannt blieb, spielte keine Rolle. Allein die Beharrlichkeit der Roma und der internationale Druck veranlasste die politisch Verantwortlichen letztendlich zur Anbringung dieser Tafel.

Akzeptanz, Einsicht und Verantwortung aus der eigenen Geschichte oder kritische Reflexion haben bei der erschlagenden Mehrheit der Bevölkerung beileibe nicht eingesetzt.

Derzeit werden beispielsweise Roma-Flüchtlinge ungeachtet der desolaten Situation in Jugoslawien oder den nachgewiesenen Diskriminierungen und der Chancenlosigkeit in Rumänien und ohne Achtung dessen, dass die Familien seit vielen Jahren hier leben, Kinder in Deutschland geboren sind, rücksichtslos ausgewiesen. Im Kosovo wurden unter den Augen der Vereinten Nationen Roma vertrieben und ermordet. Roma-Flüchtlingen aus Macedonien wird Zuflucht in den EU-Ländern verweigert. Es sind tödliche Anschläge und Überfälle auf Roma in Tschechien, der Slovakei und Bulgarien dokumentiert. Durch einen Giftanschlag in der Ukraine wurde eine Roma-Familie ermordet. Die Ignoranz und die durchdringende rassistische Haltung ist überwiegend dominant, sie bricht sich zunehmend und schamlos Bahn. Niemand riskiert etwas und es gehört schon zum guten Ton, über Roma, sprich Zigeuner, in alter Manier herzuziehen. In der Flüchtlings-Beratung des Fördervereins wird deutlicher denn je, dass es am anderen Ende der Leitung Ansprechpersonen gibt, die bewusst und mit Vorsatz schikanieren und sich das konsequenzlos leisten können.

Der Förderverein Roma setzt sich zur Zeit vor allem für ein Bleiberecht der Roma aus Rumänien ein. Insbesondere den Kindern und Jugendlichen soll auch weiterhin die Chance eröffnet bleiben, durch den Besuch unserer Kindertagesstätte, des Schulprogramms und des Beschäftigungsprojekts sich eine selbstbestimmte Zukunft aufbauen zu können.

 


Vor der Gedenkminute für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti erinnere ich an Hans Georg-Böttcher, der am 2. Juni dieses Jahres im Alter von 68 Jahren verstorben ist. Als Gründer und Vorsitzender der Roma-Union Frankfurt am Main hat er sich über Jahrzehnte hinweg nachdrücklich und rückhaltlos für die Menschenrechte der Roma und Sinti eingesetzt. Ohne sein Engagement gäbe es die Tafel am Stadtgesundheitsamt nicht.
 

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