Sehr geehrte Damen und Herren,
Hermann Langbein, ein jüdischer Auschwitz-Überlebender, berichtete, dass
es im Vernichtungslager Auschwitz Birkenau nichts Elenderes gab als den
Zigeunerblock. Viele bezeichnen Auschwitz als Hölle, weil ihnen die Worte
zur Beschreibung fehlen. Wie könnte man angesichts dessen noch den
Zigeunerblock beschreiben. Allein in der Nacht vom 2. auf den 3. August
1944 wurden knapp 2900 Roma und Sinti aus dieser Baracke vergast, nachdem
sie sich im Mai desselben Jahres durch einen Aufstand kurzzeitig
erfolgreich gegen die massenhafte Vergasung zur Wehr setzten.
Die unvergleichbare industrielle Vernichtung von Roma, Sinti und Juden war
den Nazis so wichtig, dass sie selbst Versorgungszüge für den Krieg im
Osten ausfallen ließen und für die Deportation ins Gas einsetzten.
Über eine halbe Million Roma und Sinti wurden Opfer von Sonderkommandos,
von medizinischen Experimenten, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen, sie
wurden Opfer einer fabrikmäßig organisierten perfekten Mordmaschinerie.
Ein überlebender Roma fragte nach seiner Befreiung nach Gott. Er konnte
nicht begreifen, warum Auschwitz, dessen Funktion bei den Alliierten
bekannt war, nicht bombardiert wurde. Zumindest die Gleise und die
Gaskammern. US-General Mc Loy gab eine Antwort. Es hätte nichts gebracht.
Ganz im Gegenteil, meinte er, die Propagandamaschine der Nazis hätte die
Bombardierung mit dem Hinweis ausnutzen können, die Alliierten kämpfen für
die Juden.
Der Autor Roman Frister schrieb, in Auschwitz wusste niemand mehr was
leben ist, man hat den Menschen die Seele geraubt. Viele Überlebende sind
daran zerbrochen. An dem ihnen zugefügten Schmerz, an dem Verlust des
Glaubens an Menschlichkeit und an der Unbeschreiblichkeit dessen, was
geschah. Den Verlust dieser Zuversicht, die eine Grundlage menschlicher
Existenz ist, erklärt Primo Levi mit den Worten: heute ist mir von meinem
Leben vor Auschwitz nur so viel geblieben, dass ich Hunger und Kälte
besser ertragen kann, ich bin nicht mehr lebendig genug, mich umzubringen.
Ein Überlebender Rom berichtete „Alles, was ich damals erlebt habe, kann
ich nicht vergessen, bis auf den heutigen Tag. Regelmäßig habe ich nachts
Alpträume, dann träume ich von all dem Schrecklichen, das ich in Auschwitz
und anderswo erlebt habe, ich wache dann mitten in der Nacht aus meinen
Träumen auf und zittere am ganzen Körper. Die Angstträume kehren immer
wieder zurück, sie sind ein Teil von mir geworden, den ich nicht mehr
loswerde.“ Dieses Gefühl bewegt viele Roma und Sinti und es vereinigt sich
mit der Erfahrung, auch nach Auschwitz im Land der Täter mit
Verhaltensweisen konfrontiert zu werden, deren Spektrum vom ignoranten
Leugnen, über die intelligente Verdrehung bis hin zur Umkehrung der Schuld
reicht und zwar so, dass aus den Mördern Opfer und die Geschundenen, die
Roma und Sinti, für das widerfahrene Leid selbst verantwortlich gemacht
werden. Die ungebrochene Popularität der Auschwitz-Lüge, die Umdeutung von
Tätern und Mitläufern in Opfer der Bomben der Alliierten, das ungeteilte
heroische Gedenken an NS-Kriegsverbrecher wie Stülpnagel und Nebe
anlässlich des 20. Juli 1944, das unerträgliche Hinauszögern der
Entschädigung von Zwangsarbeiter und die bis in die 60er Jahre reichende
Rechtsprechung im Nazi-Jargon gegen Roma und Sinti bei
Wiedergutmachungsprozessen sind nur Elemente dieser Konfrontation.
Die Befreiung von Auschwitz durch die rote Armee, der Sieg über die Nazis
führte nicht zur rigorosen und konsequenten Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus. Dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde bereits
1959 vom Bundesgerichtshof die Rechtsgültigkeit abgesprochen. Die Fairness
eines rechtsstaatlichen Verfahrens sei nicht gewährleistet gewesen. Wurden
die Rechte der über eine Million in Auschwitz ermordeten Juden, der
vernichteten Roma und Sinti bei diesem Urteil berücksichtigt? Erst Anfang
der 60er Jahre fand der viel beachtete Auschwitz-Prozess in Frankfurt
statt; über 15 Jahre nach dem Massenmord.
Vor vier Jahren wurde in der Braubachstraße aus privaten Mitteln und nur
durch massive Öffentlichkeitsarbeit der Roma-Union, des Fördervereins Roma
und vielen Unterstützern eine Tafel am Stadtgesundheitsamt angebracht. Die
Tafel erinnert an die ermordeten Roma und Sinti und benennt, dass die
beiden für die Erfassung und Deportation maßgeblich verantwortlichen
NS-Rasseforscher Ritter und Justin nach 1945 nicht etwa strafrechtlich zur
Verantwortung gezogen worden sind, sondern bis in die 60er Jahre im
gehobenen medizinischen Dienste der Stadt Frankfurt standen; trotz Wissen
über ihre Funktion während der NS-Zeit.
Die Stadt Frankfurt täte gut daran, sich dessen zu erinnern, was der
politischen und menschlichen Verantwortung entspricht. Ich meine damit,
dass alleine die recht spät errichteten Gedenkplatten auf dem
Hauptfriedhof, in der Krupp- und Dieselstrasse und am Stadtgesundheitsamt
nicht ausreichen. Sie schließen auch nicht, wie Dezernent Nordhoff
formulierte, eine Lücke. Gerade die Gedenkplatte auf dem Hauptfriedhof,
die kaum zu finden und völlig verdreckt ist, steht durch ihre Einbettung
in das sogenannte „Ehrenfeld“ gefallener Nazi-Soldaten aus Frankfurt für
eine weitere ebenso aktuelle wie letztlich für den Blick der Opfer - der
Roma und Sinti, der Euthanasie-Toten, der durch medizinische Experimente
Ermordeten und der Zwangsarbeiter - unerträgliche Geschichtsklitterung.
Verantwortung für die unvergleichbare Vernichtung im Nationalsozialismus
fällt wie bei den Tafeln Diesel- und Kruppstraße, wo sich die beiden Lager
befanden, von denen aus Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert wurden,
der beabsichtigten Vergessenheit anheim, weil es kein öffentliches
Interesse gibt, den relevanten politischen Zusammenhang zwischen
NS-Vergangenheit und Gegenwart herzustellen.
Einige Beispiele der jüngsten Zeit.
Frankfurt Fechenheim hat für die hier lebenden Roma eine ganz spezielle
Bedeutung. Vor fünf Jahren tobten sich in Fechenheim Bürger aus, weil dort
zu viele Roma lebten. Angeblich würde das harmonische Miteinander des
Stadtteils durch die „asoziale“ Verhaltensweise der Familien gestört. Roma
aus Rumänien, die seit geraumer Zeit in einer Bruchbude in Alt-Fechenheim
wohnten, wurden ganz speziell Zielschreibe der Kritik. Gegenstand war hier
weniger die Überlegung über die Ursache des Elends der Betroffenen oder
die Bemühung, erträgliche Lebensumstände zu schaffen. Nein, es ging der
breiten Masse mehrheitlich darum, ihren Aufenthalt zu verunmöglichen, sie
zu verjagen. Die Hasstiraden des CDU-Mannes und Ortsbeiratsmitglieds
Bodenstedt endeten schließlich darin, dass ein Brandanschlag, der auf das
Haus der Familie verübt wurde, den Opfern selber zugeschrieben wurde. So
schloss sich erneut der Kreis der Betrachtung gegenüber dem „Zigeuner“. Er
trägt an seinem Elend nicht nur eigene Schuld, sondern stellt diese auch
noch unter Beweis, indem er sich selbst anzündet. Unschuldig bleiben in
dieser Logik von Gewalt und rechtfertigender Erklärung allein die Täter.
Der Rom e. V. Köln berichtet, daß die Sonderkommission EK-Tasna
strafunmündige Roma-Kinder, überwiegend Mädchen bis 14 Jahre, im Rahmen
sogenannter Ermittlungsmethoden ohne richterlichen Beschluss zum
Altersröntgen gebracht, nackt ausgezogen und fotografiert hat.
Insbesondere verschmutzte Wäsche, Ausscheidungen und der Körpergeruch der
Kinder stieß auf die besondere Aufmerksamkeit der Beamten. In akribischer
Weise wurde beschrieben, welche Ausscheidungen vorliegen, wie deren Geruch
einzuschätzen ist, wie oft die Körperpflege erfolgt und wie verschmutzt
die Kinder sind. Weder die Kinder noch deren Eltern wurden über ihre
Rechte belehrt. Die Verhöre fanden ohne Rechtsgrundlage und in reiner
Willkür statt.
Seit Jahren setzen sich Roma und Sinti für die Auflösung einer bereits in
den 80er Jahren erbauten Schweinemastfarm auf dem Gelände des
tschechischen Konzentrationslagers Lety ein. In Lety wurden 326 Roma und
Sinti ermordet und etwa Tausend Menschen nach Auschwitz deportiert. Das
tschechische Lagerpersonal wurde trotz einer 1997 erfolgten Strafanzeige
nicht verurteilt. Die Begründung der unterlassenen Auflösung der Farm
lautet, das koste zu viel Geld, nämlich mehr als für die gesamten im Land
lebenden Roma und Sinti aufgebracht würde.
Zurück nach Frankfurt. Es ist notwendiger denn je, daran zu erinnern,
welche tragende Rolle NS Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident
Beckerle bei der Verfolgung von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht
verschwiegen werden, dass KZ-Arzt Mengele und einer der Haupttheoretiker
der NS-Rassenideologie, Ottmar von Verschuer, an der Frankfurter Uni tätig
waren. Hinweise über die Machenschaften während der NS-Zeit des hiesigen
Erbgesundheitsgerichtes und die Informationen, aus welchen Schulen Roma
und Sinti entfernt wurden, stehen ebenso offen wie die Bezeichnung der
Bahnhöfe von denen aus deportiert wurden, der Zeitungen und ihren
Nachfolgern, die die Hetze betrieben und der Lager in der Krieg-, Solms-
und Fritzlaer Straße, die bereits in den frühen 30er Jahren zur
Internierung von Roma und Sinti dienten.
Und schließlich bleibt die Forderung ein zentrales Mahnmal am
IG-Farben-Haus anzubringen. Dort, wo sowohl der Massenmord durch Zyklon-B
geplant wurde als auch die Vernichtung durch Arbeit. Auschwitz Monowitz,
der Ort der Buna-Werke des IG-Farben-Konzern, war eine einzige
Sklavenstätte. Das Unternehmen nutzte Menschen bis zum Letzten aus. Wer
nicht mehr konnte kam ins Gas. Auch daran verdiente noch IG-Farben, ohne
dass bis heute das milliardenschwere Nachfolgeunternehmen „IG-Farben in
Auflösung“ einen nennenswerten Beitrag zur Entschädigung der Opfer
geleistet hätte.
Sehr geehrte Damen und Herren. Auschwitz ist der größte Friedhof für Roma
und Sinti. Jede Familie von Überlebenden beklagt Menschen, die im Gas
geblieben sind. Das Gedenken an Auschwitz heißt, sich seiner Geschichte
und Identität bewusst zu sein und gegen jede Form von Diskriminierung und
Verfolgung einzutreten. Es heißt, sich zur Wehr zu setzen, wenn erneut
Rassismus und Antisemitismus in Wort und Tat zum „guten Ton“ gehören. Und
dies ist nicht alleine eine Frage der politischen Notwendigkeit. Es geht
um mehr, wenn beispielsweise Roma-Flüchtlinge aus der Slowakei in Belgien
vor ihrer Abschiebung von einem Gendarmen tätowiert wurden, oder wenn
unter den Augen und mit genüsslicher Zustimmung oder bewusstem Schweigen
der informierten Öffentlichkeit Roma, deren Kinder hier geboren wurden,
Familien, die vor Elend, Krieg und Pogromen geflüchtet sind, massenhaft
nach Rumänien und Jugoslawien abgeschoben werden. Zielsicher und rigoros
verfolgt die Ausländerbehörde und das Ordnungsamt die Ausweisungen. Die
Betroffenen sollen selbst dazu beitragen, u. a. durch DNA-Tests bezüglich
Abstammung und Familienzugehörigkeit, alle Voraussetzungen zu erbringen
damit zügig verschubt werden kann, wie es im Amtsdeutschen heißt. Ein
kleiner Ausschnitt dieser von der Bevölkerung rückhaltlos geteilten
Vorgehensweise: allein in den letzten zwei Jahren wurden über 20 Kinder
unserer Kindertagesstätte nach Rumänien ausgewiesen. Von den 15
Teilnehmern des Beschäftigungsprojektes des Förderverein Roma sind bereits
drei abgeschoben worden und bei weiteren 10 ist die Abschiebung lediglich
ausgesetzt.
Es sollte nicht vergessen werden, dass letztlich nicht die Opfer, sondern
die Schuldigen die Zeugen sind. Nur indem auf die Verbrechen hingewiesen,
Rassismus und Antisemitismus widerstanden wird, dominieren statt
Vergessen, Vergeben und Verleugnen Verantwortung, Mahnung und Erinnerung,
so wie sie die Tafel am Stadtgesundheitsamt in Frankfurt am Main
einfordert.
Joachim Brenner
Förderverein Roma e.V.,
Frankfurt am Main, 02.08.2004
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