Rede zum
60. Jahrestag der Liquidation des „Zigeunerlagers“ Auschwitz  (02.08.2004)



Sehr geehrte Damen und Herren,

Hermann Langbein, ein jüdischer Auschwitz-Überlebender, berichtete, dass es im Vernichtungslager Auschwitz Birkenau nichts Elenderes gab als den Zigeunerblock. Viele bezeichnen Auschwitz als Hölle, weil ihnen die Worte zur Beschreibung fehlen. Wie könnte man angesichts dessen noch den Zigeunerblock beschreiben. Allein in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden knapp 2900 Roma und Sinti aus dieser Baracke vergast, nachdem sie sich im Mai desselben Jahres durch einen Aufstand kurzzeitig erfolgreich gegen die massenhafte Vergasung zur Wehr setzten.

Die unvergleichbare industrielle Vernichtung von Roma, Sinti und Juden war den Nazis so wichtig, dass sie selbst Versorgungszüge für den Krieg im Osten ausfallen ließen und für die Deportation ins Gas einsetzten.
Über eine halbe Million Roma und Sinti wurden Opfer von Sonderkommandos, von medizinischen Experimenten, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen, sie wurden Opfer einer fabrikmäßig organisierten perfekten Mordmaschinerie.
Ein überlebender Roma fragte nach seiner Befreiung nach Gott. Er konnte nicht begreifen, warum Auschwitz, dessen Funktion bei den Alliierten bekannt war, nicht bombardiert wurde. Zumindest die Gleise und die Gaskammern. US-General Mc Loy gab eine Antwort. Es hätte nichts gebracht. Ganz im Gegenteil, meinte er, die Propagandamaschine der Nazis hätte die Bombardierung mit dem Hinweis ausnutzen können, die Alliierten kämpfen für die Juden.

Der Autor Roman Frister schrieb, in Auschwitz wusste niemand mehr was leben ist, man hat den Menschen die Seele geraubt. Viele Überlebende sind daran zerbrochen. An dem ihnen zugefügten Schmerz, an dem Verlust des Glaubens an Menschlichkeit und an der Unbeschreiblichkeit dessen, was geschah. Den Verlust dieser Zuversicht, die eine Grundlage menschlicher Existenz ist, erklärt Primo Levi mit den Worten: heute ist mir von meinem Leben vor Auschwitz nur so viel geblieben, dass ich Hunger und Kälte besser ertragen kann, ich bin nicht mehr lebendig genug, mich umzubringen.

Ein Überlebender Rom berichtete „Alles, was ich damals erlebt habe, kann ich nicht vergessen, bis auf den heutigen Tag. Regelmäßig habe ich nachts Alpträume, dann träume ich von all dem Schrecklichen, das ich in Auschwitz und anderswo erlebt habe, ich wache dann mitten in der Nacht aus meinen Träumen auf und zittere am ganzen Körper. Die Angstträume kehren immer wieder zurück, sie sind ein Teil von mir geworden, den ich nicht mehr loswerde.“ Dieses Gefühl bewegt viele Roma und Sinti und es vereinigt sich mit der Erfahrung, auch nach Auschwitz im Land der Täter mit Verhaltensweisen konfrontiert zu werden, deren Spektrum vom ignoranten Leugnen, über die intelligente Verdrehung bis hin zur Umkehrung der Schuld reicht und zwar so, dass aus den Mördern Opfer und die Geschundenen, die Roma und Sinti, für das widerfahrene Leid selbst verantwortlich gemacht werden. Die ungebrochene Popularität der Auschwitz-Lüge, die Umdeutung von Tätern und Mitläufern in Opfer der Bomben der Alliierten, das ungeteilte heroische Gedenken an NS-Kriegsverbrecher wie Stülpnagel und Nebe anlässlich des 20. Juli 1944, das unerträgliche Hinauszögern der Entschädigung von Zwangsarbeiter und die bis in die 60er Jahre reichende Rechtsprechung im Nazi-Jargon gegen Roma und Sinti bei Wiedergutmachungsprozessen sind nur Elemente dieser Konfrontation.

Die Befreiung von Auschwitz durch die rote Armee, der Sieg über die Nazis führte nicht zur rigorosen und konsequenten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde bereits 1959 vom Bundesgerichtshof die Rechtsgültigkeit abgesprochen. Die Fairness eines rechtsstaatlichen Verfahrens sei nicht gewährleistet gewesen. Wurden die Rechte der über eine Million in Auschwitz ermordeten Juden, der vernichteten Roma und Sinti bei diesem Urteil berücksichtigt? Erst Anfang der 60er Jahre fand der viel beachtete Auschwitz-Prozess in Frankfurt statt; über 15 Jahre nach dem Massenmord.

Vor vier Jahren wurde in der Braubachstraße aus privaten Mitteln und nur durch massive Öffentlichkeitsarbeit der Roma-Union, des Fördervereins Roma und vielen Unterstützern eine Tafel am Stadtgesundheitsamt angebracht. Die Tafel erinnert an die ermordeten Roma und Sinti und benennt, dass die beiden für die Erfassung und Deportation maßgeblich verantwortlichen NS-Rasseforscher Ritter und Justin nach 1945 nicht etwa strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind, sondern bis in die 60er Jahre im gehobenen medizinischen Dienste der Stadt Frankfurt standen; trotz Wissen über ihre Funktion während der NS-Zeit.

Die Stadt Frankfurt täte gut daran, sich dessen zu erinnern, was der politischen und menschlichen Verantwortung entspricht. Ich meine damit, dass alleine die recht spät errichteten Gedenkplatten auf dem Hauptfriedhof, in der Krupp- und Dieselstrasse und am Stadtgesundheitsamt nicht ausreichen. Sie schließen auch nicht, wie Dezernent Nordhoff formulierte, eine Lücke. Gerade die Gedenkplatte auf dem Hauptfriedhof, die kaum zu finden und völlig verdreckt ist, steht durch ihre Einbettung in das sogenannte „Ehrenfeld“ gefallener Nazi-Soldaten aus Frankfurt für eine weitere ebenso aktuelle wie letztlich für den Blick der Opfer - der Roma und Sinti, der Euthanasie-Toten, der durch medizinische Experimente Ermordeten und der Zwangsarbeiter - unerträgliche Geschichtsklitterung. Verantwortung für die unvergleichbare Vernichtung im Nationalsozialismus fällt wie bei den Tafeln Diesel- und Kruppstraße, wo sich die beiden Lager befanden, von denen aus Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert wurden, der beabsichtigten Vergessenheit anheim, weil es kein öffentliches Interesse gibt, den relevanten politischen Zusammenhang zwischen NS-Vergangenheit und Gegenwart herzustellen.
Einige Beispiele der jüngsten Zeit.
Frankfurt Fechenheim hat für die hier lebenden Roma eine ganz spezielle Bedeutung. Vor fünf Jahren tobten sich in Fechenheim Bürger aus, weil dort zu viele Roma lebten. Angeblich würde das harmonische Miteinander des Stadtteils durch die „asoziale“ Verhaltensweise der Familien gestört. Roma aus Rumänien, die seit geraumer Zeit in einer Bruchbude in Alt-Fechenheim wohnten, wurden ganz speziell Zielschreibe der Kritik. Gegenstand war hier weniger die Überlegung über die Ursache des Elends der Betroffenen oder die Bemühung, erträgliche Lebensumstände zu schaffen. Nein, es ging der breiten Masse mehrheitlich darum, ihren Aufenthalt zu verunmöglichen, sie zu verjagen. Die Hasstiraden des CDU-Mannes und Ortsbeiratsmitglieds Bodenstedt endeten schließlich darin, dass ein Brandanschlag, der auf das Haus der Familie verübt wurde, den Opfern selber zugeschrieben wurde. So schloss sich erneut der Kreis der Betrachtung gegenüber dem „Zigeuner“. Er trägt an seinem Elend nicht nur eigene Schuld, sondern stellt diese auch noch unter Beweis, indem er sich selbst anzündet. Unschuldig bleiben in dieser Logik von Gewalt und rechtfertigender Erklärung allein die Täter.
Der Rom e. V. Köln berichtet, daß die Sonderkommission EK-Tasna strafunmündige Roma-Kinder, überwiegend Mädchen bis 14 Jahre, im Rahmen sogenannter Ermittlungsmethoden ohne richterlichen Beschluss zum Altersröntgen gebracht, nackt ausgezogen und fotografiert hat. Insbesondere verschmutzte Wäsche, Ausscheidungen und der Körpergeruch der Kinder stieß auf die besondere Aufmerksamkeit der Beamten. In akribischer Weise wurde beschrieben, welche Ausscheidungen vorliegen, wie deren Geruch einzuschätzen ist, wie oft die Körperpflege erfolgt und wie verschmutzt die Kinder sind. Weder die Kinder noch deren Eltern wurden über ihre Rechte belehrt. Die Verhöre fanden ohne Rechtsgrundlage und in reiner Willkür statt.

Seit Jahren setzen sich Roma und Sinti für die Auflösung einer bereits in den 80er Jahren erbauten Schweinemastfarm auf dem Gelände des tschechischen Konzentrationslagers Lety ein. In Lety wurden 326 Roma und Sinti ermordet und etwa Tausend Menschen nach Auschwitz deportiert. Das tschechische Lagerpersonal wurde trotz einer 1997 erfolgten Strafanzeige nicht verurteilt. Die Begründung der unterlassenen Auflösung der Farm lautet, das koste zu viel Geld, nämlich mehr als für die gesamten im Land lebenden Roma und Sinti aufgebracht würde.

Zurück nach Frankfurt. Es ist notwendiger denn je, daran zu erinnern, welche tragende Rolle NS Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident Beckerle bei der Verfolgung von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass KZ-Arzt Mengele und einer der Haupttheoretiker der NS-Rassenideologie, Ottmar von Verschuer, an der Frankfurter Uni tätig waren. Hinweise über die Machenschaften während der NS-Zeit des hiesigen Erbgesundheitsgerichtes und die Informationen, aus welchen Schulen Roma und Sinti entfernt wurden, stehen ebenso offen wie die Bezeichnung der Bahnhöfe von denen aus deportiert wurden, der Zeitungen und ihren Nachfolgern, die die Hetze betrieben und der Lager in der Krieg-, Solms- und Fritzlaer Straße, die bereits in den frühen 30er Jahren zur Internierung von Roma und Sinti dienten.

Und schließlich bleibt die Forderung ein zentrales Mahnmal am IG-Farben-Haus anzubringen. Dort, wo sowohl der Massenmord durch Zyklon-B geplant wurde als auch die Vernichtung durch Arbeit. Auschwitz Monowitz, der Ort der Buna-Werke des IG-Farben-Konzern, war eine einzige Sklavenstätte. Das Unternehmen nutzte Menschen bis zum Letzten aus. Wer nicht mehr konnte kam ins Gas. Auch daran verdiente noch IG-Farben, ohne dass bis heute das milliardenschwere Nachfolgeunternehmen „IG-Farben in Auflösung“ einen nennenswerten Beitrag zur Entschädigung der Opfer geleistet hätte.

Sehr geehrte Damen und Herren. Auschwitz ist der größte Friedhof für Roma und Sinti. Jede Familie von Überlebenden beklagt Menschen, die im Gas geblieben sind. Das Gedenken an Auschwitz heißt, sich seiner Geschichte und Identität bewusst zu sein und gegen jede Form von Diskriminierung und Verfolgung einzutreten. Es heißt, sich zur Wehr zu setzen, wenn erneut Rassismus und Antisemitismus in Wort und Tat zum „guten Ton“ gehören. Und dies ist nicht alleine eine Frage der politischen Notwendigkeit. Es geht um mehr, wenn beispielsweise Roma-Flüchtlinge aus der Slowakei in Belgien vor ihrer Abschiebung von einem Gendarmen tätowiert wurden, oder wenn unter den Augen und mit genüsslicher Zustimmung oder bewusstem Schweigen der informierten Öffentlichkeit Roma, deren Kinder hier geboren wurden, Familien, die vor Elend, Krieg und Pogromen geflüchtet sind, massenhaft nach Rumänien und Jugoslawien abgeschoben werden. Zielsicher und rigoros verfolgt die Ausländerbehörde und das Ordnungsamt die Ausweisungen. Die Betroffenen sollen selbst dazu beitragen, u. a. durch DNA-Tests bezüglich Abstammung und Familienzugehörigkeit, alle Voraussetzungen zu erbringen damit zügig verschubt werden kann, wie es im Amtsdeutschen heißt. Ein kleiner Ausschnitt dieser von der Bevölkerung rückhaltlos geteilten Vorgehensweise: allein in den letzten zwei Jahren wurden über 20 Kinder unserer Kindertagesstätte nach Rumänien ausgewiesen. Von den 15 Teilnehmern des Beschäftigungsprojektes des Förderverein Roma sind bereits drei abgeschoben worden und bei weiteren 10 ist die Abschiebung lediglich ausgesetzt.

Es sollte nicht vergessen werden, dass letztlich nicht die Opfer, sondern die Schuldigen die Zeugen sind. Nur indem auf die Verbrechen hingewiesen, Rassismus und Antisemitismus widerstanden wird, dominieren statt Vergessen, Vergeben und Verleugnen Verantwortung, Mahnung und Erinnerung, so wie sie die Tafel am Stadtgesundheitsamt in Frankfurt am Main einfordert.

Joachim Brenner
Förderverein Roma e.V.,
Frankfurt am Main, 02.08.2004