Laudatio von Uwe Paulsen (Stadtverordneter Die
Grünen / Mitglied der Jury)
Sehr geehrter Herr Brenner als Geschäftsleiter des Fördervereins Roma
e.V., sehr geehrte Frau Ernst als Leiterin der Kindertagesstätte
Schaworalle, sehr geehrte Frau Calderas, Frau Cirpaci, Frau Siwak, die als
Mitarbeiterinnen des Vereins ebenfalls anwesend sind, sehr geehrte Damen
und Herren,
der Philosoph Bertrand Russel hat vor rund 60 Jahren gesagt:
„Gesellschaftlicher Fortschritt ist nur über Minderheiten möglich,
Mehrheiten zementieren das Bestehende“. In Anlehnung an diese Erkenntnis
können wir mit Recht sagen, demokratische und an den Menschen- und
Bürgerrechten orientierte Gesellschaften können sich nur dann
weiterentwickeln, wenn es Institutionen, Einrichtungen und Menschen gibt,
die gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung von Minderheiten
kämpfen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Leitbild des Fördervereins Roma
wird ein Versäumnis unserer Gesellschaft angesprochen und damit zugleich
erklärt, warum es eine Einrichtung wie den Förderverein Roma geben muss.
Ich zitiere:
„Roma und Sinti sind die größte ethnische Minderheit in Europa. Sie
umfasst über acht Millionen Menschen. Diese Minderheit wird vom größten
Teil der Mehrheitsbevölkerung(en) abgelehnt, was die Menschen täglich zu
spüren bekommen. Die Folgen sind eine vielfach höhere Arbeitslosigkeit,
soziale Isolation, Marginalisierung, Stigmatisierung, eine
durchschnittlich geringere Lebenserwartung und höhere
Säuglingssterblichkeit sowie unzureichende Bildungschancen.“
Diese Lebensumstände vor Augen formuliert der Förderverein Roma seine
Aufgaben:
„Der Förderverein Roma e. V. sieht sich vor diesem Hintergrund den Zielen
verpflichtet, die soziale, politische und gesellschaftliche Lage der Roma
und Sinti im Sinne einer umfänglichen Gleichberechtigung zu gestalten. Er
weist in diesem Zusammenhang auf die besondere Verantwortung angesichts
der deutschen Geschichte hin, in der die Diskriminierung und Verfolgung
der Roma und Sinti bis zur industriellen Vernichtung während des
Nationalsozialismus ging. Nach 1945 wurde die Diskriminierung ungebrochen
fortgesetzt.“
In diesem Sinne arbeitet der Förderverein Roma auf zwei wichtigen Feldern:
Zum einen soll die Lebenssituation der Roma und Sinti verbessert werden,
das entscheidende Stichwort heißt dabei Gleichberechtigung. Um
Gleichberechtigung zu erreichen, d.h. für den Verein eine „umfassende
menschliche Existenz zu ermöglichen“, muss Bildung einen zentralen
Stellenwert haben.
Der 1993 gegründete Förderverein Roma kann stolz und selbstbewusst
zurückblicken auf ein langjähriges Engagement. Der Umsetzung des Zieles,
„ein organisiertes Engagement gegen Rassismus, Ausgrenzung und
Diskriminierung“ zu ermöglichen, dienen zahlreiche Schwerpunkte und
Initiativen.
Ich möchte einige Arbeitsbereiche nennen:
• Die Sozialberatung umfasst u.a. die Hilfe bei Problemen bezüglich
Aufenthalt, Lebensunterhalt, Ausbildung und gleichzeitig auch die
Betreuung und Begleitung von Überlebenden der Verfolgung im
Nationalsozialismus.
• Das Berufsbildungsprojekt für Roma-Jugendliche. Hier werden angeboten
berufliche Bildung und Orientierung sowie schulische Qualifikation für
Roma im Alter zwischen 16 und 27 Jahren. Die Teilnehmer und
Teilnehmerinnen absolvieren Praktika, besuchen einen Wirtschafts- und
Computerkurs und qualifizieren sich schulisch weiter. Zwischen 30 und 50 %
der Teilnehmer erwerben den Hauptschulabschluss.
• Eine ambulante sozialpädagogische Lern- und Familienhilfe sowie
Erziehungsbeistandschaft unterstützt Roma-Familien in den verschiedenen
Stadtteilen.
• Das Erwachsenenbildungsprojekt für Roma bietet 15 Teilnehmern und
Teilnehmerinnen Angebote mit den Schwerpunkten Alphabetisierung,
berufliche Orientierung und Weitervermittlung in Qualifikation, Ausbildung
oder Erwerbstätigkeit.
• Der Förderverein Roma war auch Gründungsmitglied des 2001 gegründeten
Philharmonischen Vereins der Sinti und Roma. Der Philharmonische Verein
wird in vielfältiger Form unterstützt in seinem selbstformulierten
Auftrag, das musikalische Erbe der Sinti und Roma zu pflegen.
• Im Februar 2013 wurde eine Krabbelstube mit zehn Plätzen für Kinder von
0 - 3 Jahren eröffnet.
• Schließlich sei erwähnt die Kindertagesstätte Schaworalle in der
Stoltzestraße. Hierzu muss ich Ihnen aus meiner persönlichen Erfahrung
sagen, dass wir kürzlich mit einigen Mitgliedern der Grünen-Fraktion die
Kindertagesstätte Schworalle besucht haben und dann feststellen konnten,
dass die Kindertagesstätte gleichzeitig ein bundesweit anerkanntes
Modellprojekt für Grund- und Hauptschüler integriert hat. Im Sommer diesen
Jahres wurden 70 Kinder im Alter von 3 bis 15 Jahren, überwiegend Roma aus
Rumänien, in dieser Einrichtung betreut. Schon im Jahre 2006 erhielt
Schaworalle für sein beispielhaftes Engagement die Theodor-Heuss-Medaille.
Der Förderverein Roma beschäftigt zur Zeit 40 Personen, etwa die Hälfte
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Roma. Der Verein selber hat 16
Mitglieder.
Meine Damen und Herren,
die Arbeit des Fördervereins verlief nicht ohne Konflikte mit anderen
Entscheidungsträgern. In einem Gespräch berichtete mir Herr Brenner von
den Vorbehalten, die es auch in der städtischen Verwaltung gab. Das schlug
dann aber um in Anerkennung für die Arbeit. So soll ein zunächst
skeptischer Amtsleiter im Sozialdezernat sich nach einiger Zeit
anerkennend geäußert haben mit den Worten: „Die reden nicht nur, sondern
sie machen auch was“.
Ein anderes Beispiel: Im September 2011 gab es in der Kindertagesstätte
Schaworalle eine so genannte Inobhutnahme von Kindern. Dies führte zu
einer schweren Belastung für das so dringend notwendige
Vertrauensverhältnis zu den Klienten.
Meine Damen und Herren,
in Frankfurt und Umgebung leben zur Zeit etwa 3000 - 4000 Roma, in der
Mehrzahl ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Etwa 300 Roma in Frankfurt sind
zurzeit obdachlos. Die gegenwärtige bundespolitische Diskussion über die
so genannte Armutsmigration aus Osteuropa ist auch eine Diskussion über
das Schicksal und die Lebensumstände der Roma. Wenn heute Bundespolitiker
fordern, die so genannte Armutsmigration aus Osteuropa durch
Grenzkontrollen zu stoppen, dann wollen sie auch die Rechte der Roma
einschränken. Wer das fordert, widerspricht dem Geist der europäischen
Union und der europäischen Integration. Europa ist nicht nur, aber auch
eine Wertegemeinschaft. Diese Werte sind nicht teilbar. Es darf in Europa
keine Unterteilung in Bürger erster und Bürger zweiter Klasse geben.
Umso wichtiger ist es, dass es ein Engagement gibt, wie es der
Förderverein Roma vorlebt. Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus. Die Gedenktafel am Stadtgesundheitsamt und die
Ausstellung Frankfurt-Auschwitz, die bundesweit gezeigt wurde, sind
Ausdruck dieser wichtigen historischen Verantwortung, der sich der Verein
stellt.
Sehr geehrter Herr Brenner, sehr geehrte Frau Ernst, wir waren sehr
überzeugt von Ihrer Arbeit und ich möchte Ihnen im Namen der Jury ganz
herzlich zur Verleihung des Integrationspreises 2013 gratulieren.
Joachim Brenner, Förderverein Roma e.V.
Rede zur Verleihung des Integrationspreises 2013,
Römerberg, Kaisersaal, 26.11.2013, 18.30 Uhr
"In Frankreich protestierten landesweit, mit Nachdruck und lautstark,
Menschen gegen die Abschiebung einer Roma-Schülerin und ihrer Familie ins
Kosovo. Die erfolgreiche Schülerin spricht weder serbokroatisch noch
albanisch. Ihre Muttersprache ist romanes und französisch. Als Reaktion
skandierte Innenminister Valls, Roma seien nicht integrierbar. Selbst wenn
man dem Begriff Integration kritisch gegenübersteht, denn es geht mehr um
Diversität, Inklusion, um Respekt, Akzeptanz und Anerkennung, bleibt die
Aussage von Valls zutiefst rassistisch. Wie über Jahrhunderte hinweg
existierende Vorurteile zu einem verachtenden Medienhype werden, zeigt die
Berichterstattung über das angeblich entführte blonde Roma-Mädchen in
einem griechischen Camp. Von den haltlosen Behauptungen bezüglich Kauf,
Diebstahl und Misshandlung blieb am Ende nichts übrig, außer der
Gewissheit, dass es auch blonde Roma-Mädchen gibt und die vorschnelle
Inobhutnahme bzw. Rückführung nach Bulgarien genauso falsch war wie die
zeitgleiche Herausnahme von blonden Kindern aus Roma-Familien in anderen
Ländern.
Seit Jahren werden Roma aus dem Bundesgebiet und auch aus Hessen entgegen
Empfehlungen von Menschenrechtsorganisationen ins ehemalige Jugoslawien
ausgewiesen. Ähnlich wie bei der Räumung des Blockupy-Camps letztes Jahr,
in dem viele der ärmsten Roma allein Unterstützung und Versorgung fanden,
wird versucht, die Betroffenen zu vertreiben. Das Wenige an Hab und Gut,
wie die so wichtige Iso-Matte, wird oftmals einbehalten.
Alle Ordnungspolitiker können sicher sein: das Elend in den
Herkunftsländern - und damit meine ich die hohe Säuglingssterblichkeit,
die um 20 Jahre geringere Lebenserwartung, die enorme Arbeits- und
Perspektivlosigkeit, die desolate Wohn-, Versorgungs- und
Gesundheitssituation, der Ausschluss von Bildung und gesellschaftlicher
Teilhabe und die zum Teil tödliche Aggression des pogromähnlichen
Volkszorns gegenüber den Roma - ist so unvorstellbar, dass Abschreckung
nicht funktioniert. Selbst wenn es nur wenige sind, die den Weg in den
Westen Europas finden, sie werden hier ankommen und die Gesellschaft mit
der Kehrseite der florierenden Geschäfte, wie sie beispielsweise mit den
Billiglohnländern Rumänien oder Bulgarien seit Jahrzehnten gemacht werden,
konfrontieren.
Im Wahlkampf redeten Innenminister vom Zuzug in die Sozialsysteme und
verbreiteten gefälschte Zahlen. Rechte Plakate propagierten im NS-Stil den
Hass gegenüber Roma, der bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Selbst
als sich die Anschuldigungen als völlig haltlos erwiesen, dass Sinti und
Roma die NSU-Verbrechen begangen hätten, wurde seitens des
Bundeskriminalamtes weiter gegen sie ermittelt. Ein Polizei-Beamter aus
Frankfurt hetzte als rechtslastiger Parteikandidat in seinem Heimatbezirk,
indem er auf Roma im Bahnhofsviertel hinwies und den Untergang
Deutschlands beschwörte. Der seitens der jüdischen Gemeinde anlässlich des
75. Jahrestages der Reichspogromnacht massiv kritisierte erstarkte
Antisemitismus geht einher mit der zunehmenden Diskriminierung von Roma
und Sinti.
Von Obdachlosigkeit, Krankheit und mangelhafte Versorgung
sind auch Roma in Frankfurt betroffen. Statt Verweigerung von Leistungen
sollten sich die politisch Verantwortlichen darüber klar werden, dass
ordnungspolitisches Maxime kein Elend lindern. Es darf nicht vergessen
werden, dass wir es zu einem großen Teil mit europäischen Staatsbürgern zu
tun haben, deren Rechtsansprüche auf Hilfe verbrieft und zunehmend
höchstrichterlich bestätigt werden – ebenso wie ihr Recht auf
Freizügigkeit. Skandalös ist, dass der Waren-, Dienstleistungs- und
Kapitalverkehr in der europäischen Union offenbar mehr Wert ist, als die
von Armut betroffenen Menschen, die in ihr leben.
Jano Grünholz, ein 60jähriger Frankfurter Roma, dessen Familie seit
Generationen in Deutschland zuhause ist, ist staatenlos, weil die Nazis
die deutsche Staatsbürgerschaft der Eltern aberkannten und sie seither
nicht mehr verliehen wurde - Jano hätte vermutlich dem Preis kritisch
gegenüber gestanden. Die Realität zwischen unseren Erfahrungen,
insbesondere in der Sozialberatung und den sicherlich ernst gemeinten,
wohlwollenden Zielen des Preises, ist so groß. Gleich ob es die 77 jährige
Frau ist, die nicht untergebracht werden konnte und letztes Jahr im
Rollstuhl auf der Straße starb oder der eklatante Mangel an der
Bereitstellung von menschenwürdigem Wohnraum und angemessener Versorgung -
es bleibt eine enorme Diskrepanz.
Sicherlich ist die Stadt Frankfurt und das Jobcenter mit der Unterstützung
der Kita Schaworalle, dem Jugend- und Erwachsenenbildungsprojekt und der
Sozialberatung weitaus mehr engagiert als viele andere Kommunen. Dennoch,
es kann nicht einerseits zerstört werden, was andererseits mit viel
ambitionierter, erfolgreicher und bundesweit anerkannter Arbeit aufgebaut
wurde.
Die am kommenden Donnerstag mit Hilfe des Dezernats für Integration
stattfindende Veranstaltung zur Situation der Roma in Osteuropa - auf der
auch ein alternatives Konzept aus Berlin, das über 200 Roma Flüchtlingen
Perspektiven in den Bereichen Wohnen, Schule, Ausbildung und
Erwerbstätigkeit bietet, zur Sprache kommt - sollte ein Schritt in die
richtige Richtung sein.
Sehr geehrte Frau Dr. Eskandari-Grünberg, für Ihr
Engagement, die Ausstellung Frankfurt-Auschwitz vor zwei Jahren in der
Paulskirche - und somit auch die Thematisierung der speziellen deutschen
Verantwortung gegenüber Roma und Sinti - präsentieren zu können und für
die Verleihung des Preises heute Abend danken wir Ihnen recht herzlich."
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