Rede zur Kundgebung anlässlich des Jahrestages der "Liquidation" des "Zigeunerlagers" Auschwitz (03.08.2015)



Im KZ Auschwitz fand von gestern bis heute die zentrale Gedenkveranstaltung zur Liquidation der Roma und Sinti statt. In Hamburg fordern Roma nach einer Woche Streik ein Bleiberecht und einen Abschiebestopp, sie trafen sich gestern im KZ Neuengamme und protestieren in den nächsten Tagen auf dem Hamburger Flughafen gegen die Sammelabschiebungen. Auch in Baden-Baden wird gegen die Ausweisungen protestiert und an die Ermordung der Roma und Sinti erinnert.

Über 200 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im 1. Halbjahr. Die Politik macht mobil und fordert mehr sichere Herkunftsländer, worunter das ehemalige Jugoslawien fällt. Gerade die Grünen, die angetreten sind, das Recht auf Asyl und den Schutz von Minderheiten zu garantieren, forcieren diesen Prozess. Vor allem Roma Familien sind seit Jahren von Abschiebungen in Elend, Verfolgung und Perspektivlosigkeit betroffen. Subsumiert unter dem verachtenden Begriff „Armutsflüchtlinge“ wird an ihnen mehr denn je die starke staatliche Hand in Form von Massenausweisungen, geteilt von der Zustimmung der Mitte der Gesellschaft, praktiziert.

Praktischerweise werden Zeltstädte errichtet, um gar nicht erst die viel bemühte Willkommenskultur bei den Betroffenen aufkommen zu lassen. In Kassel Kalden liegt diese Zeltstadt direkt neben dem Flughafen, von dem aus abgeschoben wird.

Der Bundes-Roma-Verband berichtet: Roma, die heute in Südosteuropa leben, sind die Nachkommen der Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermords. Der Rassismus gegen Roma ist heute in Südosteuropa allgegenwärtig. Die Diskriminierung beginnt in den ex-jugoslawischen Staaten bereits im öffentlichen Raum. Die Mehrheit der Roma hat keine festen Unterkünfte, keine richtigen Wohnungen. Sie organisieren ihr Überleben in irregulären Siedlungen, Slums, oft ohne Wasser-, Abwasser- und Stromanschluss. Die Lebenserwartung ist gegenüber dem gesellschaftlichen Durchschnitt erheblich niedriger, die Kindersterblichkeit um ein vielfaches höher. Ein regelmäßiges Einkommen ist fast nie vorhanden. In vielen Haushalten gibt es tagelang kaum etwas zu essen. Kernrechte, wie das Recht auf Wohnen, Nahrung, Arbeit, Bildung etc. sind nicht garantiert. Die Roma leiden unter Vorurteilen, systematischer Diskriminierung, Marginalisierung und Ausgrenzung. Viele unterliegen einem permanenten Vertreibungsdruck. Polizeiliche Räumungen von Roma-Siedlungen sind alltäglich.

Auch EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien, vor allem, wenn es sich um Roma handelt, wird in Deutschland zunehmend die Unterstützung und Hilfe zum Aufbau einer Perspektive verweigert. Vielen bleibt das Leben auf der Straße ohne gesundheitlichen Schutz und ohne Versorgung. In einem weiteren Schritt wird ihnen die Freizügigkeit entzogen, also die Grundlage der EU-Osterweiterung und die Basis der enormen Gewinne hiesiger Unternehmen. Ihnen droht dann die Abschiebung mit Wiedereinreisesperre. Die Betroffenen werden nach dem stets funktionierenden Prinzip der Stigmatisierung für ihr Elend selbst verantwortlich gemacht, kriminalisiert und sind Gegenstand lebensgefährlicher Hetzkampagnen. Roma sind die Flüchtlinge zweiter Klasse und die EU-Bürger zweiter Klasse. Begleitet werden Denunziation, Hass und Gewalt von einem ansteigenden Antisemitismus, der – oft unter dem Deckmantel der Kritik an Israel – immer brutaler und aggressiver wird. Mit dem stets reaktivierbaren Vorurteil gegenüber Roma und Sinti geht das tödliche Gerücht über die Juden einher.

Liebe Freundinnen und Freunde, in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden über 2800 Roma und Sinti aus dem „Zigeunerlager“ Auschwitz vergast, nachdem sie sich im am 16. Mai desselben Jahres durch einen Aufstand kurzzeitig erfolgreich gegen die massenhafte Vergasung zur Wehr setzten. „Arbeitsfähige“ Roma und Sinti, vor allem diejenigen, die den Widerstand organisiert hatten, wurden vor der Mordaktion selektiert und in andere Lager deportiert.

Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma, führte dazu folgendes aus: „In der Geschichte des Widerstandes unserer Minderheit gegen den Nationalsozialismus hat der Aufstand in Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944 einen besonderen Stellenwert. Um das Handeln der Beteiligten angemessen würdigen zu können, müssen wir uns die Möglichkeiten von Widerstand unter den damaligen Bedingungen bewusst machen.

Bereits mit dem Eintritt in das Konzentrationslager wurde der Häftling zur bloßen Nummer degradiert, die man ihm auf die Haut eintätowierte. An diesem Ort grenzenloser Willkür und – aus Sicht der Opfer – der totalen Ohnmacht ist jeder Versuch, sich der aufgezwungenen Entmenschlichung entgegenzustellen, als ein Akt des Widerstands zu betrachten. Dass es in der Hölle dennoch Solidarität und Standhaftigkeit gegeben hat, verdient unsere höchste Anerkennung.

Dieser Widerstand umfasste ein breites Spektrum: Er reichte vom Protest gegen Entrechtung und Ausgrenzung oder gegen Verschleppung von Angehörigen bis zur Flucht aus den Konzentrationslagern. Als Teil der Befreiungsbewegungen im nationalsozialistisch besetzten Europa leisteten Sinti und Roma auch vielerorts bewaffneten Widerstand, wie zum Beispiel innerhalb der französischen Résistance oder im ehemaligen Jugoslawien, wo sich viele Angehörige unserer Minderheit der „Nationalen Befreiungsfront“ unter Tito anschlossen. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Befreiung ihres Landes und erhielten nach dem Krieg höchste Auszeichnungen. Auch darf nicht unerwähnt bleiben, dass in den Reihen der alliierten Truppen, die Europa unter großen Opfern von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft befreiten, auch zahlreiche Angehörige unserer Minderheit kämpften.“

Am 27. Januar 2000 wurde in der Braubachstraße aus privaten Mitteln und nur durch massive Öffentlichkeitsarbeit der Roma-Union, des Förderverein Roma, der jüdischen Gemeinde und vielen UnterstützerInnen eine Tafel am Stadtgesundheitsamt angebracht. Über zehn Jahre lang haben fast alle Parteien und Gremien und das Institut für Stadtgeschichte die Tafel verhindert. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Täter, eine angeblich unsichere Beweislage über ihre Verbrechen, die namentliche Erwähnung der Verantwortlichen, die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Nachkriegszeit und die angebliche Gefahr, dass durch die Anbringung der Mahntafel ein Wallfahrtsort für Neonazis entstünde, waren die ebenso unglaubwürdigen wie konstruierten Gründe der Ablehnung.

Die Tafel erinnert an die ermordeten Roma und Sinti und benennt, dass die beiden für die Erfassung und Deportation maßgeblich verantwortlichen NS-Rasseforscher Ritter und Justin nach 1945 nicht etwa strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind, sondern, wie im Fall von Justin, noch bis in die 60er Jahre im gehobenen medizinischen Dienste der Stadt Frankfurt standen; trotz Wissen über ihre Funktion während der NS-Zeit.

Die Stadt Frankfurt täte gut daran, sich dessen zu erinnern, was der politischen und menschlichen Verantwortung entspricht. Die recht spät errichteten Gedenkplatten auf dem Hauptfriedhof, in der Krupp- und Dieselstraße und am Stadtgesundheitsamt reichen nicht aus. Die Gedenkplatte auf dem Hauptfriedhof ist kaum zu finden und schwer lesbar. Es gibt kein öffentliches Interesse, den relevanten politischen Zusammenhang zwischen NS-Vergangenheit und Gegenwart herzustellen.

Notwendiger denn je ist es, neben dem täglichen Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus, zu erinnern, welche tragenden Rollen NS Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident Beckerle bei der Verfolgung von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass KZ-Arzt Mengele und einer der Haupttheoretiker der NS-Rassenideologie, Ottmar von Verschuer, an der Frankfurter Uni tätig waren. Hinweise über die Machenschaften während der NS-Zeit des hiesigen Erbgesundheitsgerichtes und die Informationen, aus welchen Schulen Roma und Sinti entfernt wurden, stehen ebenso offen wie die Bezeichnung der Orte, von denen aus deportiert wurde, der Zeitungen und ihren Nachfolgern, die die Hetze betrieben und der Lager in der Krieg-, Solms- und Fritzlaer Straße, die bereits in den frühen 30er Jahren zur Internierung von Roma und Sinti dienten. Und schließlich bleibt die Forderung nach einer zentralen Gedenk- und Erinnerungsstätte in Frankfurt am Main.

Offen ist auch noch die Aufnahme der Vernichtung der Roma und Sinti in der NS-Zeit und deren Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart in den hessischen Lehrplan für die Sekundarstufe zwei sowie in die Ausbildung von LehrerInnen. Solange dies nicht passiert, wird es weiterhin ein beabsichtigter blinder Fleck bleiben.

Ein Beispiel aus Tschechien. Das KZ Lety, in der Nähe von Prag gelegen, wurde Anfang der 70er Jahre in eine Schweinemast, statt eine Gedenkstätte umgewandelt. Der Anteil von tschechischen Bürgern an den NS-Verbrechen gegenüber tschechischen Roma sollte verschwiegen werden. Seit Jahren wenden sich Aktivisten gegen diesen Skandal. Die Reaktion der EU ist vielsagend. Die Kommission findet den Akt fürchterlich und das Parlament finanziert seit Jahrzehnten die Schweinemast.

Die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung hat beschlossen, dass alle noch erhaltene Gräber von Roma und Sinti, die der Verfolgung und Vernichtung entkommen sind, nicht eingeebnet werden. Die zentrale Forderung aller Verbände, nämlich die Gräber von Überlebenden des Nazi-Terrors in Gedenkorte umzuwandeln, lehnte bisher das Familienministerium ab. Der hessische Landesverband der deutschen Sinti und Roma und die hessische Landesregierung führen Verhandlungen, die den weiteren Bestand und die entsprechende Gestaltung der Gräber regeln sollen. Der Förderverein Roma bemüht sich zurzeit um die Gestaltung eines weiteren Grabes als Gedenkstätte.


Joachim Brenner, Förderverein Roma e.V., Ffm