Im KZ Auschwitz fand von gestern bis heute die zentrale
Gedenkveranstaltung zur Liquidation der Roma und Sinti statt. In Hamburg
fordern Roma nach einer Woche Streik ein Bleiberecht und einen
Abschiebestopp, sie trafen sich gestern im KZ Neuengamme und protestieren
in den nächsten Tagen auf dem Hamburger Flughafen gegen die
Sammelabschiebungen. Auch in Baden-Baden wird gegen die Ausweisungen
protestiert und an die Ermordung der Roma und Sinti erinnert.
Über 200 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im 1. Halbjahr. Die
Politik macht mobil und fordert mehr sichere Herkunftsländer, worunter das
ehemalige Jugoslawien fällt. Gerade die Grünen, die angetreten sind, das
Recht auf Asyl und den Schutz von Minderheiten zu garantieren, forcieren
diesen Prozess. Vor allem Roma Familien sind seit Jahren von Abschiebungen
in Elend, Verfolgung und Perspektivlosigkeit betroffen. Subsumiert unter
dem verachtenden Begriff „Armutsflüchtlinge“ wird an ihnen mehr denn je
die starke staatliche Hand in Form von Massenausweisungen, geteilt von der
Zustimmung der Mitte der Gesellschaft, praktiziert.
Praktischerweise werden Zeltstädte errichtet, um gar nicht erst die
viel bemühte Willkommenskultur bei den Betroffenen aufkommen zu lassen. In
Kassel Kalden liegt diese Zeltstadt direkt neben dem Flughafen, von dem
aus abgeschoben wird.
Der Bundes-Roma-Verband berichtet: Roma, die heute in Südosteuropa
leben, sind die Nachkommen der Überlebenden des nationalsozialistischen
Völkermords. Der Rassismus gegen Roma ist heute in Südosteuropa
allgegenwärtig. Die Diskriminierung beginnt in den ex-jugoslawischen
Staaten bereits im öffentlichen Raum. Die Mehrheit der Roma hat keine
festen Unterkünfte, keine richtigen Wohnungen. Sie organisieren ihr
Überleben in irregulären Siedlungen, Slums, oft ohne Wasser-, Abwasser-
und Stromanschluss. Die Lebenserwartung ist gegenüber dem
gesellschaftlichen Durchschnitt erheblich niedriger, die
Kindersterblichkeit um ein vielfaches höher. Ein regelmäßiges Einkommen
ist fast nie vorhanden. In vielen Haushalten gibt es tagelang kaum etwas
zu essen. Kernrechte, wie das Recht auf Wohnen, Nahrung, Arbeit, Bildung
etc. sind nicht garantiert. Die Roma leiden unter Vorurteilen,
systematischer Diskriminierung, Marginalisierung und Ausgrenzung. Viele
unterliegen einem permanenten Vertreibungsdruck. Polizeiliche Räumungen
von Roma-Siedlungen sind alltäglich.
Auch EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien, vor allem, wenn es sich
um Roma handelt, wird in Deutschland zunehmend die Unterstützung und Hilfe
zum Aufbau einer Perspektive verweigert. Vielen bleibt das Leben auf der
Straße ohne gesundheitlichen Schutz und ohne Versorgung. In einem weiteren
Schritt wird ihnen die Freizügigkeit entzogen, also die Grundlage der
EU-Osterweiterung und die Basis der enormen Gewinne hiesiger Unternehmen.
Ihnen droht dann die Abschiebung mit Wiedereinreisesperre. Die Betroffenen
werden nach dem stets funktionierenden Prinzip der Stigmatisierung für ihr
Elend selbst verantwortlich gemacht, kriminalisiert und sind Gegenstand
lebensgefährlicher Hetzkampagnen. Roma sind die Flüchtlinge zweiter Klasse
und die EU-Bürger zweiter Klasse. Begleitet werden Denunziation, Hass und
Gewalt von einem ansteigenden Antisemitismus, der – oft unter dem
Deckmantel der Kritik an Israel – immer brutaler und aggressiver wird. Mit
dem stets reaktivierbaren Vorurteil gegenüber Roma und Sinti geht das
tödliche Gerücht über die Juden einher.
Liebe Freundinnen und Freunde, in der Nacht vom 2. auf den 3.
August 1944 wurden über 2800 Roma und Sinti aus dem „Zigeunerlager“
Auschwitz vergast, nachdem sie sich im am 16. Mai desselben Jahres durch
einen Aufstand kurzzeitig erfolgreich gegen die massenhafte Vergasung zur
Wehr setzten. „Arbeitsfähige“ Roma und Sinti, vor allem diejenigen, die
den Widerstand organisiert hatten, wurden vor der Mordaktion selektiert
und in andere Lager deportiert.
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sinti
und Roma, führte dazu folgendes aus: „In der Geschichte des Widerstandes
unserer Minderheit gegen den Nationalsozialismus hat der Aufstand in
Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944 einen besonderen Stellenwert. Um das
Handeln der Beteiligten angemessen würdigen zu können, müssen wir uns die
Möglichkeiten von Widerstand unter den damaligen Bedingungen bewusst
machen.
Bereits mit dem Eintritt in das Konzentrationslager wurde der
Häftling zur bloßen Nummer degradiert, die man ihm auf die Haut
eintätowierte. An diesem Ort grenzenloser Willkür und – aus Sicht der
Opfer – der totalen Ohnmacht ist jeder Versuch, sich der aufgezwungenen
Entmenschlichung entgegenzustellen, als ein Akt des Widerstands zu
betrachten. Dass es in der Hölle dennoch Solidarität und Standhaftigkeit
gegeben hat, verdient unsere höchste Anerkennung.
Dieser Widerstand umfasste ein breites Spektrum: Er reichte vom
Protest gegen Entrechtung und Ausgrenzung oder gegen Verschleppung von
Angehörigen bis zur Flucht aus den Konzentrationslagern. Als Teil der
Befreiungsbewegungen im nationalsozialistisch besetzten Europa leisteten
Sinti und Roma auch vielerorts bewaffneten Widerstand, wie zum Beispiel
innerhalb der französischen Résistance oder im ehemaligen Jugoslawien, wo
sich viele Angehörige unserer Minderheit der „Nationalen Befreiungsfront“
unter Tito anschlossen. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Befreiung
ihres Landes und erhielten nach dem Krieg höchste Auszeichnungen. Auch
darf nicht unerwähnt bleiben, dass in den Reihen der alliierten Truppen,
die Europa unter großen Opfern von der nationalsozialistischen
Schreckensherrschaft befreiten, auch zahlreiche Angehörige unserer
Minderheit kämpften.“
Am 27. Januar 2000 wurde in der Braubachstraße aus privaten Mitteln
und nur durch massive Öffentlichkeitsarbeit der Roma-Union, des
Förderverein Roma, der jüdischen Gemeinde und vielen UnterstützerInnen
eine Tafel am Stadtgesundheitsamt angebracht. Über zehn Jahre lang haben
fast alle Parteien und Gremien und das Institut für Stadtgeschichte die
Tafel verhindert. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Täter, eine
angeblich unsichere Beweislage über ihre Verbrechen, die namentliche
Erwähnung der Verantwortlichen, die Gleichsetzung von Nationalsozialismus
und Nachkriegszeit und die angebliche Gefahr, dass durch die Anbringung
der Mahntafel ein Wallfahrtsort für Neonazis entstünde, waren die ebenso
unglaubwürdigen wie konstruierten Gründe der Ablehnung.
Die Tafel erinnert an die ermordeten Roma und Sinti und benennt,
dass die beiden für die Erfassung und Deportation maßgeblich
verantwortlichen NS-Rasseforscher Ritter und Justin nach 1945 nicht etwa
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind, sondern, wie im Fall
von Justin, noch bis in die 60er Jahre im gehobenen medizinischen Dienste
der Stadt Frankfurt standen; trotz Wissen über ihre Funktion während der
NS-Zeit.
Die Stadt Frankfurt täte gut daran, sich dessen zu erinnern, was
der politischen und menschlichen Verantwortung entspricht. Die recht spät
errichteten Gedenkplatten auf dem Hauptfriedhof, in der Krupp- und
Dieselstraße und am Stadtgesundheitsamt reichen nicht aus. Die
Gedenkplatte auf dem Hauptfriedhof ist kaum zu finden und schwer lesbar.
Es gibt kein öffentliches Interesse, den relevanten politischen
Zusammenhang zwischen NS-Vergangenheit und Gegenwart herzustellen.
Notwendiger denn je ist es, neben dem täglichen Engagement gegen
Rassismus und Antisemitismus, zu erinnern, welche tragenden Rollen NS
Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident Beckerle bei der Verfolgung
von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass KZ-Arzt
Mengele und einer der Haupttheoretiker der NS-Rassenideologie, Ottmar von
Verschuer, an der Frankfurter Uni tätig waren. Hinweise über die
Machenschaften während der NS-Zeit des hiesigen Erbgesundheitsgerichtes
und die Informationen, aus welchen Schulen Roma und Sinti entfernt wurden,
stehen ebenso offen wie die Bezeichnung der Orte, von denen aus deportiert
wurde, der Zeitungen und ihren Nachfolgern, die die Hetze betrieben und
der Lager in der Krieg-, Solms- und Fritzlaer Straße, die bereits in den
frühen 30er Jahren zur Internierung von Roma und Sinti dienten. Und
schließlich bleibt die Forderung nach einer zentralen Gedenk- und
Erinnerungsstätte in Frankfurt am Main.
Offen ist auch noch die Aufnahme der Vernichtung der Roma und Sinti
in der NS-Zeit und deren Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart in den
hessischen Lehrplan für die Sekundarstufe zwei sowie in die Ausbildung von
LehrerInnen. Solange dies nicht passiert, wird es weiterhin ein
beabsichtigter blinder Fleck bleiben.
Ein Beispiel aus Tschechien. Das KZ Lety, in der Nähe von Prag
gelegen, wurde Anfang der 70er Jahre in eine Schweinemast, statt eine
Gedenkstätte umgewandelt. Der Anteil von tschechischen Bürgern an den
NS-Verbrechen gegenüber tschechischen Roma sollte verschwiegen werden.
Seit Jahren wenden sich Aktivisten gegen diesen Skandal. Die Reaktion der
EU ist vielsagend. Die Kommission findet den Akt fürchterlich und das
Parlament finanziert seit Jahrzehnten die Schweinemast.
Die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung hat beschlossen, dass
alle noch erhaltene Gräber von Roma und Sinti, die der Verfolgung und
Vernichtung entkommen sind, nicht eingeebnet werden. Die zentrale
Forderung aller Verbände, nämlich die Gräber von Überlebenden des
Nazi-Terrors in Gedenkorte umzuwandeln, lehnte bisher das
Familienministerium ab. Der hessische Landesverband der deutschen Sinti
und Roma und die hessische Landesregierung führen Verhandlungen, die den
weiteren Bestand und die entsprechende Gestaltung der Gräber regeln
sollen. Der Förderverein Roma bemüht sich zurzeit um die Gestaltung eines
weiteren Grabes als Gedenkstätte.
Joachim Brenner, Förderverein Roma e.V., Ffm
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