Rede zur Kundgebung: 73. Jahrestag des Auschwitz-Erlasses (19.12.2015)




Sehr geehrte Damen und Herren,

wir haben uns heute anlässlich des 73. Jahrestages des Auschwitz-Erlasses hier getroffen.

Die Stimmung gegen Migranten und Flüchtlinge wurde mit Erfolg seit geraumer Zeit geschürt und sie entlädt sich nicht zuletzt gegenüber Roma. Roma verkörpern für die Mehrheitsbevölkerung mehr denn je diejenigen, gegen die sich seit Jahrhunderten der Hass richtet und realisiert. Umfragen zeigen zunehmend, wie sich alle Negativzuschreibungen mit einer ebenso scham- wie geschichtslosen Selbstverständlichkeit auf den Begriff Zigeuner konzentrieren.

Roma aus EU-Ländern, die vor Diskriminierung, Ausgrenzung und grenzenloser Armut in den Westen flüchten wird Hilfe verweigert. Die Prüfung auf Unterstützung erfolgt restriktiv, die Gesetzgebung erlaubt dies und zielt darauf ab, den Betroffenen die Existenz zu verunmöglichen. Keine Versorgung, keine Unterkunft, keine ausreichende medizinische Hilfe, statt dessen die Aufforderung zur Ausreise – neuerdings mit der Androhung einer Rückreisesperre. Wenn sich die Menschen selbst helfen, unter Brücken oder in Abbruchhäusern leben, wird geräumt und dabei nicht selten das letzte Hab und Gut der Betroffenen verbrannt.

Ein aktuelles Beispiel aus der Sozialberatung vor dem Hintergrund einer abgelehnten Anmietung. Zitat einer Eigentümerin: „Was aber für mich, bzw. die Hausgemeinschaft untragbar ist, Frau C. ist Zigeunerin, das verbietet die Hausverwaltung …“ Ein weiteres: eine Kollegin wird während der Pausenaufsicht im Jugendberufsbildungsprojekt von der Polizei, die sich von den Kindern provoziert fühlte, in Handschellen gelegt, weil sie nicht schnell genug die Hände aus den Taschen nahm. Ihr Hinweis, dass sie auch Rechte habe, kommentiert ein Beamter mit den Worten, sie solle dorthin gehen wo sie herkomme, da hätte sie Rechte.

Seit Beginn des Jahres wurden über 220 Anschläge auf Flüchtlingsheime verübt - Unterkünfte, in denen auch Roma-Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien leben. Lediglich vier Verurteilungen gab es. Insgesamt sind bisher in 2015 1600 Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund gegen Flüchtlinge zu verzeichnen. Die Strafermittlungsbehörden stehen unter Kritik und tun nichts, ähnlich wie in dem NSU-Prozess.
Für Menschen aus sog. sicheren Herkunftsländern, also Ländern, die per politisches Votum als sicher erklärt wurden, gibt es keine Bleibeperspektive und keine breite Solidarität. Ein Großteil dieser Menschen sind Roma, die in speziellen Lagern leben müssen, von wo sie direkt abgeschoben werden. Es findet keine Einzelprüfung mehr statt. Ihr Recht auf Asyl, ihr Schutz als Minderheit und die Wahrung ihrer Menschenrechte hebelten Bundes- und Länderparlamente aus. Allein von dem Flugplatz Kassel Kalden wurden zwischen März und Oktober 7000 Menschen abgeschoben.

Im Schnellbrief vom 29. Januar 1943 erging folgende Anweisung
„Auf Befehl des Reichsführers SS vom 16.12.42 sind Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dieser Personenkreis wird im nachstehenden kurz als 'zigeunerische Personen' bezeichnet. Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager Auschwitz.“

Die Vorstufe zur späteren Vernichtung wurde durch die Erfassung aller im deutschen Reich lebenden Roma und Sinti geschaffen. Robert Ritter, Leiter der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes Berlin“ und seine enge Mitarbeiter Eva Justin waren hierfür maßgeblich verantwortlich. Ihre so genannten „rassenbiologischen“ Untersuchungen registrierten minutiös über 20.000 Roma und Sinti. Sie leisteten damit die Voraussetzung für die spätere fabrikmäßige Vernichtung. Beide wurden nach 1945 von der Stadt Ffm. beschäftigt und sind für ihre Taten nie zur Rechenschaft gezogen worden.

Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Er durchdringt alle Schichten, alle Klassen und alle politisch weltanschauliche Spektren. Der Konsens beschreibt - offen wie verdeckt - das feine Ressentiment, die geschickte Ignoranz oder die brutale Verachtung gegenüber Sinti und Roma. Sein Geist ist in kritischen Redaktionen ebenso zuhause wie am Stammtisch. Das Objekt der Missbilligung muss nicht beim Namen genannt werden. Das gesellschaftliche Grundverständnis der Ausgrenzung ist seit Jahrhunderten so eingeübt, dass allein Stichworte, Bilder oder Gerüchte ausreichen, um Ausgrenzung und Schuldzuschreibung unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Ohne viele Worte weiß die

Mehrheit wer und was gemeint ist. Das Vorurteil gegenüber Roma und Sinti ist eine generative Sozialisations- und Erziehungsinstanz.

Ein weiteres Merkmal zeichnet den Konsens aus. Jeder und jede, die ihn teilen, veröffentlichen oder zur Rechtfertigung von Handeln nutzen, riskiert nichts. Verleumdung, Lüge, Hetze, Missachtung und Beleidigung bleiben weitestgehend ungeahndet, soweit es sich um Zuschreibungen bezüglich Roma und Sinti handelt. Von Kindesbeinen an, hat man Kenntnis wie „Zigeuner“ sich verhalten, was sie denken, wie sie aussehen und was sie tun. Der vermeintliche Erfahrungsschatz macht jeden Wortführer zum Experten. Differenzierung, Individualität, Persönlichkeitsrechte, Bürger- und Menschenrechte – Errungenschaften, die die Zivilgesellschaft seit der Aufklärung wie eine Monstranz vor sich herträgt – sind, geht es um Roma und Sinti, nicht opportun. Der Schutz der Familie und der Privatsphäre, die Fähigkeit, Informationen, Haltungen oder Meinungen kritisch zu hinterfragen, bleiben in der Praxis und in der Beurteilung der Zielgruppe unberücksichtigt.

Abgesehen vom Antisemitismus bietet kein anderer gesellschaftlicher Kontext der Projektion des Groß-, Klein- und Wutbürgers so viel Fläche zur Verunglimpfung wie die allumfassende Kolportage über die Roma. Ihre physische Anwesenheit ist ebenso wenig erforderlich wie eine tatsächliche, jemals erfolgte Kontaktnahme. Sie werden zu Objekten, auf eine Art, die die Opfer zu Tätern macht und den Protest der Betroffenen zur Legitimation für die Tat. Die generalisierte Meinung über Roma und Sinti instrumentalisiert jeden Widerspruch, der diese Konstruktion ins Wanken bringen könnte, zur Lüge, zum Betrug.

Die tausendfach bewiesene Tatsache der Erfassung, Deportation und Vernichtung einer halben Million europäischer Roma und Sinti im Nationalsozialismus hatte bis in die 70er Jahre die juristische Grundbewertung, dass Kinder, Alte, Frauen und Kranke, an dem Menschheitsverbrechen selbst schuld seien. Anerkennung und Entschädigungsleistungen blieben aus oder bewegten sich im Bereich von Almosen. Selbst die nachträgliche Denunzierung durch ehemalige Leidensgenossen im KZ war den Roma und Sinti sicher.

Angesichts der 600jährigen ungebrochenen Geschichte von Diskriminierung erklärt sich, warum Verständnis und Solidarität, wie sie beispielsweise von Teilen der Gesellschaft und der Bundesregierung aktuell gegenüber den syrischen Flüchtlingen umgesetzt wird, an den Roma vorbeigeht. Sie sind vielmehr der jeweilige Gegenpol, der dazu dient, in gute und schlechte Hilfesuchende zu unterscheiden. Keiner Gruppe von Flüchtlingen wird der Grund für die Flucht kollektiv so einhellig abgesprochen wie den Roma. Diese Haltung bleibt ungebrochen, nicht erst seit der Öffnung Osteuropas. Im jugoslawischen Krieg verweigerte man ihnen die Anerkennung der Verfolgung als Individuum und als Gruppe. Vor dem Hintergrund der Migration aus den Ländern der EU-Osterweiterung sind sie die Versinnbildlichung der hässlichen Armutszuwanderung. Die Gründe für die aktuelle Flucht von Roma aus den Ländern des Balkans werden per Dekret für unglaubwürdig erklärt, weil mittels Verwaltungsakt alle Herkunftsländer als sicher zu bezeichnen sind. Das Bittere an diesem Vorgehen ist der Umstand, dass selbst eine Partei wie die Grünen, die den Flüchtlingsschutz und die Rechte von Minderheiten als politisches Gründungsessentiell postulieren, dieselben mit Blick auf Roma restlos veräußern.
Noch immer haben die meisten Bundesländer keine Vereinbarungen zum Schutz der Integrität der anerkannten nationalen Minderheit abgeschlossen. Es ist nach wie vor dem Engagement einzelner Lehrkräfte überlassen, ob der NS-Völkermord an Roma und Sinti und dessen Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart im Unterricht der Sekundarstufe 2 bearbeitet wird, da er seitens der Kultusministerien mehrheitlich nicht verbindlich im Curriculum aufgenommen ist. Die Pflege der Gräber derjenigen, die die Vernichtung überlebt haben, obliegt einzig den Familien und ihren ökonomischen Möglichkeiten. Sie fällt so, im Gegensatz zum hochsensiblen Gedenken an die Täter, dem Vergessen anheim. Hier erweitert sich die Ignoranz bei der Entschädigung um die Missachtung von Erinnerung und Verantwortlichkeit. Die leidtragenden Familien, die Kindeskinder der Opfer bleiben mit ihren traumatischen Erfahrungen unter sich.

Soll der Konstruktion entgegengewirkt werden - im Alltag, in der Bildungsarbeit, im politischen Engagement - geht es nicht zuvorderst um die Darstellung der Heterogenität von Roma und Sinti oder die Selbstverständlichkeit, dass schließlich doch die Beurteilung von Persönlichkeiten Gegenstand sein sollte, so wie bei allen anderen Menschen auch. Ein Durchbrechen der alt eingeübten offenen und subtilen Vorurteilsstruktur ist einerseits durch das Wissen um die Begrenztheit von Bildung zu erreichen, weil nicht jeder sich durch pure Einsicht von geliebten Hassbildern verabschieden möchte. Andererseits ist die Kernfrage, wie die genannten Haltungen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft sich gebildet haben, wie Theorie und Praxis selbst ohne die unmittelbare Existenz der Objekte der Verachtung historisch ungebrochen wirken. Vereinfacht ausgedrückt, es geht letztlich nicht darum, wie viel Information über Roma und Sinti existiert, sondern es geht darum, aus welchen Gründen die Majorität unterdrückt, marginalisiert, ausgrenzt, bedroht und im Extremfall erschlägt. Die eigene Geschichte und hier insbesondere die deutsche Geschichte ist relevant, will man sich schließlich von der Jahrhunderte alten Tradition der Entmenschlichung einer Gruppe, die die größte europäische Minderheit darstellt, schrittweise verabschieden.

Joachim Brenner, Förderverein Roma e.V.
Ffm., den 16.12.2015