Sehr geehrte Damen und Herren,
wir haben uns heute anlässlich des 73. Jahrestages des Auschwitz-Erlasses
hier getroffen.
Die Stimmung gegen Migranten und Flüchtlinge wurde mit Erfolg seit
geraumer Zeit geschürt und sie entlädt sich nicht zuletzt gegenüber Roma.
Roma verkörpern für die Mehrheitsbevölkerung mehr denn je diejenigen,
gegen die sich seit Jahrhunderten der Hass richtet und realisiert.
Umfragen zeigen zunehmend, wie sich alle Negativzuschreibungen mit einer
ebenso scham- wie geschichtslosen Selbstverständlichkeit auf den Begriff
Zigeuner konzentrieren.
Roma aus EU-Ländern, die vor Diskriminierung, Ausgrenzung und grenzenloser
Armut in den Westen flüchten wird Hilfe verweigert. Die Prüfung auf
Unterstützung erfolgt restriktiv, die Gesetzgebung erlaubt dies und zielt
darauf ab, den Betroffenen die Existenz zu verunmöglichen. Keine
Versorgung, keine Unterkunft, keine ausreichende medizinische Hilfe, statt
dessen die Aufforderung zur Ausreise – neuerdings mit der Androhung einer
Rückreisesperre. Wenn sich die Menschen selbst helfen, unter Brücken oder
in Abbruchhäusern leben, wird geräumt und dabei nicht selten das letzte
Hab und Gut der Betroffenen verbrannt.
Ein aktuelles Beispiel aus der Sozialberatung vor dem Hintergrund einer
abgelehnten Anmietung. Zitat einer Eigentümerin: „Was aber für mich, bzw.
die Hausgemeinschaft untragbar ist, Frau C. ist Zigeunerin, das verbietet
die Hausverwaltung …“ Ein weiteres: eine Kollegin wird während der
Pausenaufsicht im Jugendberufsbildungsprojekt von der Polizei, die sich
von den Kindern provoziert fühlte, in Handschellen gelegt, weil sie nicht
schnell genug die Hände aus den Taschen nahm. Ihr Hinweis, dass sie auch
Rechte habe, kommentiert ein Beamter mit den Worten, sie solle dorthin
gehen wo sie herkomme, da hätte sie Rechte.
Seit Beginn des Jahres wurden über 220 Anschläge auf Flüchtlingsheime
verübt - Unterkünfte, in denen auch Roma-Flüchtlinge aus dem ehemaligen
Jugoslawien leben. Lediglich vier Verurteilungen gab es. Insgesamt sind
bisher in 2015 1600 Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund gegen
Flüchtlinge zu verzeichnen. Die Strafermittlungsbehörden stehen unter
Kritik und tun nichts, ähnlich wie in dem NSU-Prozess.
Für Menschen aus sog. sicheren Herkunftsländern, also Ländern, die per
politisches Votum als sicher erklärt wurden, gibt es keine
Bleibeperspektive und keine breite Solidarität. Ein Großteil dieser
Menschen sind Roma, die in speziellen Lagern leben müssen, von wo sie
direkt abgeschoben werden. Es findet keine Einzelprüfung mehr statt. Ihr
Recht auf Asyl, ihr Schutz als Minderheit und die Wahrung ihrer
Menschenrechte hebelten Bundes- und Länderparlamente aus. Allein von dem
Flugplatz Kassel Kalden wurden zwischen März und Oktober 7000 Menschen
abgeschoben.
Im Schnellbrief vom 29. Januar 1943 erging folgende Anweisung
„Auf Befehl des Reichsführers SS vom 16.12.42 sind Zigeunermischlinge,
Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen
balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer
Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dieser
Personenkreis wird im nachstehenden kurz als 'zigeunerische Personen'
bezeichnet. Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad
familienweise in das Konzentrationslager Auschwitz.“
Die Vorstufe zur späteren Vernichtung wurde durch die Erfassung aller im
deutschen Reich lebenden Roma und Sinti geschaffen. Robert Ritter, Leiter
der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle des
Reichsgesundheitsamtes Berlin“ und seine enge Mitarbeiter Eva Justin waren
hierfür maßgeblich verantwortlich. Ihre so genannten „rassenbiologischen“
Untersuchungen registrierten minutiös über 20.000 Roma und Sinti. Sie
leisteten damit die Voraussetzung für die spätere fabrikmäßige
Vernichtung. Beide wurden nach 1945 von der Stadt Ffm. beschäftigt und
sind für ihre Taten nie zur Rechenschaft gezogen worden.
Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Er durchdringt alle
Schichten, alle Klassen und alle politisch weltanschauliche Spektren. Der
Konsens beschreibt - offen wie verdeckt - das feine Ressentiment, die
geschickte Ignoranz oder die brutale Verachtung gegenüber Sinti und Roma.
Sein Geist ist in kritischen Redaktionen ebenso zuhause wie am Stammtisch.
Das Objekt der Missbilligung muss nicht beim Namen genannt werden. Das
gesellschaftliche Grundverständnis der Ausgrenzung ist seit Jahrhunderten
so eingeübt, dass allein Stichworte, Bilder oder Gerüchte ausreichen, um
Ausgrenzung und Schuldzuschreibung unmissverständlich zum Ausdruck zu
bringen. Ohne viele Worte weiß die
Mehrheit wer und was gemeint ist. Das Vorurteil gegenüber Roma und Sinti
ist eine generative Sozialisations- und Erziehungsinstanz.
Ein weiteres Merkmal zeichnet den Konsens aus. Jeder und jede, die ihn
teilen, veröffentlichen oder zur Rechtfertigung von Handeln nutzen,
riskiert nichts. Verleumdung, Lüge, Hetze, Missachtung und Beleidigung
bleiben weitestgehend ungeahndet, soweit es sich um Zuschreibungen
bezüglich Roma und Sinti handelt. Von Kindesbeinen an, hat man Kenntnis
wie „Zigeuner“ sich verhalten, was sie denken, wie sie aussehen und was
sie tun. Der vermeintliche Erfahrungsschatz macht jeden Wortführer zum
Experten. Differenzierung, Individualität, Persönlichkeitsrechte, Bürger-
und Menschenrechte – Errungenschaften, die die Zivilgesellschaft seit der
Aufklärung wie eine Monstranz vor sich herträgt – sind, geht es um Roma
und Sinti, nicht opportun. Der Schutz der Familie und der Privatsphäre,
die Fähigkeit, Informationen, Haltungen oder Meinungen kritisch zu
hinterfragen, bleiben in der Praxis und in der Beurteilung der Zielgruppe
unberücksichtigt.
Abgesehen vom Antisemitismus bietet kein anderer gesellschaftlicher
Kontext der Projektion des Groß-, Klein- und Wutbürgers so viel Fläche zur
Verunglimpfung wie die allumfassende Kolportage über die Roma. Ihre
physische Anwesenheit ist ebenso wenig erforderlich wie eine tatsächliche,
jemals erfolgte Kontaktnahme. Sie werden zu Objekten, auf eine Art, die
die Opfer zu Tätern macht und den Protest der Betroffenen zur Legitimation
für die Tat. Die generalisierte Meinung über Roma und Sinti
instrumentalisiert jeden Widerspruch, der diese Konstruktion ins Wanken
bringen könnte, zur Lüge, zum Betrug.
Die tausendfach bewiesene Tatsache der Erfassung, Deportation und
Vernichtung einer halben Million europäischer Roma und Sinti im
Nationalsozialismus hatte bis in die 70er Jahre die juristische
Grundbewertung, dass Kinder, Alte, Frauen und Kranke, an dem
Menschheitsverbrechen selbst schuld seien. Anerkennung und
Entschädigungsleistungen blieben aus oder bewegten sich im Bereich von
Almosen. Selbst die nachträgliche Denunzierung durch ehemalige
Leidensgenossen im KZ war den Roma und Sinti sicher.
Angesichts der 600jährigen ungebrochenen Geschichte von Diskriminierung
erklärt sich, warum Verständnis und Solidarität, wie sie beispielsweise
von Teilen der Gesellschaft und der Bundesregierung aktuell gegenüber den
syrischen Flüchtlingen umgesetzt wird, an den Roma vorbeigeht. Sie sind
vielmehr der jeweilige Gegenpol, der dazu dient, in gute und schlechte
Hilfesuchende zu unterscheiden. Keiner Gruppe von Flüchtlingen wird der
Grund für die Flucht kollektiv so einhellig abgesprochen wie den Roma.
Diese Haltung bleibt ungebrochen, nicht erst seit der Öffnung Osteuropas.
Im jugoslawischen Krieg verweigerte man ihnen die Anerkennung der
Verfolgung als Individuum und als Gruppe. Vor dem Hintergrund der
Migration aus den Ländern der EU-Osterweiterung sind sie die
Versinnbildlichung der hässlichen Armutszuwanderung. Die Gründe für die
aktuelle Flucht von Roma aus den Ländern des Balkans werden per Dekret für
unglaubwürdig erklärt, weil mittels Verwaltungsakt alle Herkunftsländer
als sicher zu bezeichnen sind. Das Bittere an diesem Vorgehen ist der
Umstand, dass selbst eine Partei wie die Grünen, die den Flüchtlingsschutz
und die Rechte von Minderheiten als politisches Gründungsessentiell
postulieren, dieselben mit Blick auf Roma restlos veräußern.
Noch immer haben die meisten Bundesländer keine Vereinbarungen zum Schutz
der Integrität der anerkannten nationalen Minderheit abgeschlossen. Es ist
nach wie vor dem Engagement einzelner Lehrkräfte überlassen, ob der
NS-Völkermord an Roma und Sinti und dessen Wirkungsgeschichte bis in die
Gegenwart im Unterricht der Sekundarstufe 2 bearbeitet wird, da er seitens
der Kultusministerien mehrheitlich nicht verbindlich im Curriculum
aufgenommen ist. Die Pflege der Gräber derjenigen, die die Vernichtung
überlebt haben, obliegt einzig den Familien und ihren ökonomischen
Möglichkeiten. Sie fällt so, im Gegensatz zum hochsensiblen Gedenken an
die Täter, dem Vergessen anheim. Hier erweitert sich die Ignoranz bei der
Entschädigung um die Missachtung von Erinnerung und Verantwortlichkeit.
Die leidtragenden Familien, die Kindeskinder der Opfer bleiben mit ihren
traumatischen Erfahrungen unter sich.
Soll der Konstruktion entgegengewirkt werden - im Alltag, in der
Bildungsarbeit, im politischen Engagement - geht es nicht zuvorderst um
die Darstellung der Heterogenität von Roma und Sinti oder die
Selbstverständlichkeit, dass schließlich doch die Beurteilung von
Persönlichkeiten Gegenstand sein sollte, so wie bei allen anderen Menschen
auch. Ein Durchbrechen der alt eingeübten offenen und subtilen
Vorurteilsstruktur ist einerseits durch das Wissen um die Begrenztheit von
Bildung zu erreichen, weil nicht jeder sich durch pure Einsicht von
geliebten Hassbildern verabschieden möchte. Andererseits ist die
Kernfrage, wie die genannten Haltungen der jeweiligen
Mehrheitsgesellschaft sich gebildet haben, wie Theorie und Praxis selbst
ohne die unmittelbare Existenz der Objekte der Verachtung historisch
ungebrochen wirken. Vereinfacht ausgedrückt, es geht letztlich nicht
darum, wie viel Information über Roma und Sinti existiert, sondern es geht
darum, aus welchen Gründen die Majorität unterdrückt, marginalisiert,
ausgrenzt, bedroht und im Extremfall erschlägt. Die eigene Geschichte und
hier insbesondere die deutsche Geschichte ist relevant, will man sich
schließlich von der Jahrhunderte alten Tradition der Entmenschlichung
einer Gruppe, die die größte europäische Minderheit darstellt,
schrittweise verabschieden.
Joachim Brenner, Förderverein Roma e.V.
Ffm., den 16.12.2015
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