Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Freunde,
die Romni Barbara Strauss lebte ebenso wie ihr Bruder Paul über 40
Jahre in Frankfurt und wurde am 2. August 1924 in Hötersleben, Kreis
Braunschweig, geboren. Die Familie hatte sieben Kinder, drei Jungen und
vier Mädchen. Die Eltern und alle Geschwister, außer dem Bruder Paul und
der älteren Schwester Buscha, sind in Auschwitz vergast worden; alleine
weil sie Roma waren.
Frau Strauss, ihre Geschwister und die Eltern
bezogen nach einigen Jahren der Reise 1934 ein Haus im Leipziger Stadtteil
Möckern. Die Familie war abgesichert, alle Kinder besuchten die Schule und
der Vater, Anton Stoika, hatte einen gutgehenden Viehhandel. Ende der 30er
Jahre beschloss man, nach Köln zu ziehen. Die Familie hatte dort eine
schöne Wohnung am Heumarkt 4. Im Krieg wurde das Haus ausgebombt.
Vorübergehend lebte die gesamte Familie auf einem Rheinschiff. Die
Versorgung seitens der Stadt Köln war dürftig. Vom Schiff aus kamen sie
für kurze Zeit in eine drei Zimmer Wohnung, einem ehemaligen Metzgerladen.
Am 3. März 1943, gegen vier Uhr morgens, Barbara Strauss und ihr Vater
waren nicht zuhause, sie besuchten eine Tante, erschien die Polizei und
nahm die Familie fest. Alle Personen kamen in ein Gebäude der Gestapo, dem
Severinshaus. Nachdem die Tante und Ihr Vater erfahren haben, was mit der
Familie passiert ist, meldeten sie sich später freiwillig bei der Polizei
in Herne. Beiden teilte man mit, sie kämen aus Schutz vor den Bomben in
Ferienhäuser. Eine Arbeit zur Sicherung des Auskommens würde ihnen auch
zur Verfügung gestellt. Man brachte sie nach Köln, wo bereits alle Roma
und Sinti aus Westfalen zentral festgehalten und vom Severinshaus aus nach
Auschwitz deportiert wurden.
Der Transport war unmenschlich.
Eingepfercht in einem Viehwagon, ohne Essen, nur dürftig mit Wasser
versorgt und auf Stroh liegend, nahm die 14tägige Fahrt ihren Lauf. Sie
endete an der Rampe von Auschwitz. Dort wurden alle Kleinkinder, Kranke
und Alte selektiert und direkt vergast. Im Hauptlager Auschwitz
angekommen, schor man alle kahl. Dann mussten sie sich einem
Entlausungsbad unterziehen. Die Prozedur der Demütigung begann. Die Frauen
waren gezwungen, sich vor den Männern nackt auszuziehen, was - neben der
generellen Erniedrigung eines solchen Aktes - für Roma nochmals einen
speziellen Tabu- und Gesetzesbruch bedeutete und für die Nazis nur ein
Punkt mehr in dem Programm der Vernichtung der sogenannten „Zigeuner“ war.
Die SS ließ alle vor sich vorbeilaufen und prüfte genau, ob es noch
Wertgegenstände, d. h. Schmuck oder Geld gab.
Das Martyrium ging
weiter. Frau Strauß tätowierte die SS unwiederbringlich die KZ-Nummer Z
2643 ein. Ein ewiges Zeichen. Im speziell für die Roma und Sinti gebauten
„Zigeunerlager“ teilten sich 10 Personen ein Bettgestell. Von Hygiene, vor
allem für Frauen, konnte keine Rede sein. Die Tante erkrankte kurz nach
der Ankunft an Typhus und verbrachte zwei Monate im Krankenbau. Die beiden
Brüder Paul und Fritz wurden zur Maurerkolonne abkommandiert. Ihre Aufgabe
bestand darin, das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau weiter auszubauen.
Verwandte und Bekannte, die die Familie im „Zigeunerlager“ trafen,
Menschen, mit denen sie heute gesprochen hatten und das gemeinsame Leid
teilten, waren am anderen Morgen tot. Das war nur ein Teil des Alltags in
Auschwitz. Ein anderer Teil war der, dass Frau Strauss und ihre Schwester
die Leichen der Verwandten und aller anderen, die im Block starben, wie
Holz stapeln mussten. Der Stapel wurde auf einen LKW geladen, zum
Krematorium gebracht und verbrannt. Beim Aufbau des zweiten Kamins mussten
beide ebenfalls mitarbeiten.
Die Eltern und die vier Geschwister
von Frau Strauss hielten die Strapazen des Lagers nicht lange aus. Sie
erkrankten, konnten nicht mehr arbeiten und wurden vergast. Allein in der
Nacht zum 2. August 1944, am 20. Geburtstag von Barbara Strauss, sind über
4000 Roma ermordet worden, nachdem sie sich vorher erfolgreich dagegen zur
Wehr setzten.
Vor der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz
kamen Frau Srauss und ihre Schwester in das Lager Schwarzenforst. Dort
leisteten sie Zwangsarbeit für die Heinkelwerke. Zur Schikane gehörte auch
die Verrichtung von Tätigkeiten, wie beispielsweise schwere Steine von
links nachts rechts und dann wieder von rechts nach links zu schleppen.
Die Menschen sollten sich vergewissern, nichts wert zu sein. Als Barbara
Strauss für die Schwester und sich Kartoffeln stahl und erwischt wurde,
bekam sie zwei mal 25 Stockhiebe mit dem Ochsenziemer auf den Rücken. Für
den schon geschundenen Körper hätte dies beinahe den Tod bedeutet.
Frau Barbara Straus und viele andere Menschen litten und leiden neben den
körperlichen Folgeschäden auch an psychischen Qualen. Die unbeschreibliche
Tortour führte zur Traumatisierung, zu unzähligen schlaflosen Nächten, in
denen Frau Strauss die Leichenberge sah und den Geruch von verbranntem
Menschenfleisch nicht vergessen konnte.
Hermann Langbein, ebenfalls
ein Auschwitz-Überlebender, berichtete, dass es im Vernichtungslager
Auschwitz Birkenau nichts Elenderes gab als den sogenannten Zigeunerblock.
Viele bezeichnen Auschwitz als Hölle, weil ihnen die Worte zur
Beschreibung fehlen. Mindestens eine halbe Million Roma und Sinti wurden
Opfer von Sonderkommandos, von medizinischen Experimenten, von
unmenschlichen Arbeitsbedingungen, sie wurden Opfer der fabrikmäßig
organisierten perfekten Mordmaschinerie.
Der jüdische Autor Roman
Frister sagte, in Auschwitz wusste niemand mehr, was leben ist, "man hat
den Menschen die Seele geraubt". Viele Überlebende sind daran zerbrochen.
An dem ihnen zugefügten Schmerz, an dem Verlust des Glaubens an
Menschlichkeit und an der Unbeschreiblichkeit dessen, was geschah. Den
Verlust dieser Zuversicht, die eine Grundlage menschlicher Existenz und
Gemeinschaft ist, erklärte Primo Levi mit den eindrücklichen Worten: heute
ist mir von meinem Leben vor Auschwitz nur so viel geblieben, dass ich
Hunger und Kälte besser ertragen kann, ich bin nicht mehr lebendig genug,
mich umzubringen.
Wir treffen uns heute anlässlich des 75.
Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers
Auschwitz durch die Rote Armee. In Auschwitz wurden Roma, Sinti und Juden
massenhaft und systematisch ermordet. Die vermeintliche Kulturnation
Deutschland hatte sich zum Ziel gesetzt, alle Juden, alle Roma und Sinti
zu vernichten - geplant, umgesetzt in geübter Perfektion und geteilt von
der erschlagenden Mehrheit. Die Erkenntnis aus Auschwitz ist die
Verpflichtung für das Engagement gegen Antisemitismus und Antiziganismus
und die unverzichtbare Konfrontation, wie Fritz Bauer feststellte.
Die Missachtung der Opfer und ihrer Kindeskinder führt letztlich zur
Relativierung und zur Leugnung des singulären Menschheitsverbrechens.
Ihre Logik zielt auf die Ignoranz gegenüber der historischen Verantwortung
und ebnet den Weg hin zur Verdrehung, die aus Opfern schließlich Täter
macht. Diese Einstellung durchdringt - offen oder verdeckt - immer das
rassistische und antisemitische Ressentiment und die praktische Gewalt
gegenüber Roma und Sinti und Juden.
Auschwitz wird in den Augen
vieler zur überflüssigen Beschäftigung oder dient zur sogenannten
Aufarbeitungsaufforderung – als könnte man das, was geschah, wie ein
Unfall erledigen. Die Absicht dahinter ist offensichtlich. Es soll reiner
Tisch gemacht werden, damit nicht die alltägliche Gewalt im bekannten
geschichtlichen Kontext erscheint. Wie anders ist zu erklären, dass 75
Jahre nach der Befreiung über 2/3 der Bevölkerung immer noch der Ansicht
ist, Roma und Sinti sind kriminell und sollten aus dem Stadtbild
verschwinden. Eine Meinung, die einher geht mit der Ablehnung von Muslimen
und dem tief verwurzelten Hass gegenüber Juden.
„Alle europäischen
Roma und Sinti sind von den Nationalsozialisten aus rassischen Gründen –
vom Kleinkind bis zum Greis – verfolgt worden. Eine halbe Million unserer
Menschen sind systematisch in den 40er Jahren ermordet worden. Wie
Nachkommen der Verfolgten heute zum Teil behandelt werden, ist an
geschichtlicher Verantwortungslosigkeit und Ungerechtigkeit kaum zu
überbieten“, stellte Adam Strauss, Vorsitzender des hessischen
Landesverband der deutschen Sinti und Roma, fest. Konkret bedeutet das,
ein Kontext zu dem KZ Jasenovac in Kroatien, zum KZ Lety in Tschechien
oder zur Deportation und Ermordung von tausenden Roma in Transnistrien
wird nicht hergestellt. Die tagtägliche Ausgrenzung von Roma aus Osteuropa
und die massenhafte Abschiebung von Roma Flüchtlingen ins ehemalige
Jugoslawien, in Elend und Gewalt, bleibt absichtlich geschichtslos. Ein
weiterer Ausdruck davon ist die Ignoranz. Die Aufklärung der
Brandanschläge auf Roma von 2016 in Frankfurt steht beispielsweise immer
noch aus. Mit Nachdruck wird nicht ermittelt. Ich erinnere in dem
Zusammenhang auch an die Jahre zurückliegende Hetze in Fechenheim
gegenüber Roma. Gegenstand war damals nicht die Überlegung über die
Ursache des Elends der Betroffenen oder die Bemühung, erträgliche
Lebensumstände zu schaffen. Nein, es ging mehrheitlich darum, ihren
Aufenthalt zu verunmöglichen, sie zu verjagen. Die Hasstiraden des
damaligen CDU-Mannes und Ortsbeiratsmitglieds Bodenstedt endeten
schließlich darin, dass ein Brandanschlag, der auf das Haus einer
Roma-Familie verübt wurde, den Opfern selber zugeschrieben wurde. So
schließt sich der Kreis der Betrachtung. Unschuldig bleiben in dieser
Logik von Gewalt und rechtfertigender Erklärung allein die Täter.
Es geht vielen Roma-Migranten aus Osteuropa schlecht. Gesetzesänderungen
haben den Rechtsanspruch auf Hilfe auf ein unmenschliches Minimum
reduziert. Die Brache, auf der obdachlose Roma vor zwei Jahren
eigenbestimmt lebten, wurde geräumt, weil nicht alleine die Versagung von
öffentlicher Hilfe ausreichte. Es musste darüber hinaus auch die Struktur
der Selbsthilfe zerstört werden. Verstärkt wird nunmehr Kontrolle im
öffentlichen Raum durchgeführt, Barverwarnungen ausgesprochen, es
erfolgten unrechtmäßig stigmatisierende Sichtvermerke in Pässen und es
wird immer stärker geprüft, ob nicht die Ausweisung der EU-Bürger, d. h.
vieler Roma, die im Elend leben, umgesetzt werden kann. Ausgrenzung und
strukturelle Gewalt gegenüber Roma nehmen zu. Der Verelendung wird mit
ordnungsliebender Hilfeversagung begegnet, Armut mit Inobhutnahmen und
Einschüchterung. Selbst auf die offensichtliche Bedürftigkeit eines schwer
behinderten in Lebensgefahr befindlichen Menschen reagiert die Verwaltung
mit Verschleppung der Unterstützungsleistung. Die Restriktionen in der
Gesetzgebung funktionieren perfekt und sie werden mit Eifer ausgeführt.
Die Fälle von Diskriminierung häufen sich. Eine aktuelle Studie, die die
Missstände kritisiert, bleibt aus Koalitionsraison unter Verschluss.
Heute ist der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, also ein Tag
des Sieges. Daran zu erinnern, verschafft den wenigen Überlebenden und
ihren Kindeskindern zumindest Genugtuung. Dies wird von vielen geäußert,
trotz der genauen Wahrnehmung, dass Ablehnung und die Angst davor zunehmen
– eine Angst, die konkret und bekannt ist und die seit Generationen in den
Familien existiert.
Die Mahntafel in der Braubachstraße nimmt Bezug
darauf und erinnert daran, dass 1947 Robert Ritter von Sozialdezernent
Prestel als Stadtarzt und Leiter der Jugendsichtungsstelle für Gemüts- und
Nervenkranke und der Jugendpsychiatrie nach Frankfurt gerufen wurde. Ihm
folgte ein Jahr später seine frühere Assistentin Eva Justin, die eine
Anstellung als Kinderpsychologin erhielt und als Gutachterin tätig war.
Prestel war seit 1937 verantwortlich für die Konzentrationslager für Roma
und Sinti in der Krupp- und Dieselstraße. Auch Personaldezernent Menzer
stand hinter der Anstellung. Ritter starb 1951. Verfahren auf Initiative
von Roma und Sinti gegen Justin, die ebenso wie Ritter durch ihre
Tätigkeit am rassenhygienischen Institut des Reichsgesundheitsamtes
verantwortlich für die Deportation und Vernichtung von 20.000 Roma und
Sinti war, blieben erfolglos. Erst Anfang der 60er Jahre wurden die
Verbrechen beider aufgrund von Veröffentlichungen in Quick, Spiegel und
Stern und dem Engagement des Journalisten Valentin Senger wieder
öffentlich diskutiert, Justin jedoch nicht verurteilt. Lediglich ihre
Arbeitsstelle wurde auf den Bonameser Standplatz, wo auch Roma und Sinti
lebten, verlegt. Sie erforschte dort erneut deren soziale Situation und
war danach im Universitätsklinikum Ffm. tätig. Justin starb 1966 in
Offenbach.
Zurzeit wird ein Dokumentationszentrum für Roma und
Sinti in Ffm. wieder diskutiert. Seit Jahrzehnten fordert dies auch der
Förderverein Roma. Es bleibt notwendig, daran zu erinnern, welche Rolle NS
Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident Beckerle bei der Verfolgung
von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass KZ-Arzt
Mengele und einer der Haupttheoretiker der NS-Rassenideologie, Ottmar von
Verschuer, an der Frankfurter Uni tätig waren. Hinweise über die
Machenschaften während der NS-Zeit des hiesigen Erbgesundheitsgerichtes
und die Informationen, aus welchen Schulen Roma-Kinder entfernt wurden
stehen offen.
Die Erinnerung an Auschwitz und die Bemühung, dieses
Menschheitsverbrechen in einen relevanten aktuellen Kontext zu setzen ist
angesichts der antisemitischen Anschläge und der zunehmenden Gewalt
gegenüber Roma und Sinti mehr als notwendig. Beunruhigend ist dabei nicht
allein der gewalttätige rechte Rand, sondern auch die Stimmung in der
Mitte der Gesellschaft, der Hass im bürgerlichen Lager - die Etablierung
von Verachtung und Ausgrenzung gegenüber der Minderheit ist mehr denn je
ein Kennzeichen bürgerlicher Politik.
Mit einigen beispielhaften
Aktivitäten, die in engem Zusammenhang mit der persönlichen Geschichte von
Verfolgung und Vernichtung steht, möchte ich schließen. Der Förderverein
Roma e. V. organisiert zusammen mit der Jugendaliyah der jüdischen
Gemeinde Frankfurt seit zwei Jahren einen einwöchigen Theaterworkshop zum
Thema Identität, Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Während dieser Woche
reflektieren sechs Jugendliche aus Israel, sechs Schüler und Schülerinnen
der Anne Frank Schule Frankfurt und sechs TeilnehmerInnen des
Jugendberufsbildungsprojektes des Förderverein Roma in einer
Jugendherberge im Rhein-Main-Gebiet ihre Erfahrungen. Die gemeinsam
entwickelten Handlungsmöglichkeiten und Gegenstrategien werden dann am
Ende der Woche in einer szenischen Vorführung in der Aula der Anne Frank
Schule präsentiert. Insbesondere die Jugendlichen waren bisher sehr
zufrieden mit dem Verlauf und den Inhalten, deshalb möchten wir auch in
diesem Jahr den Workshop fortsetzen. Im letzten Jahr hat die
Medienpädagogin Ursula Schmidt drei Mitarbeiterinnen des Vereins, Frau
Adam, Frau Caldaras und Frau Preda in dem Film "Weil wir Romnija sind"
beschrieben und so ihre Arbeit, den Alltag und ihr Engagement gegen
Antiziganismus dokumentiert. Im Herbst dieses Jahres wird in Kooperation
mit der Anne Frank Bildungsstätte eine interaktive Ausstellung
präsentiert, die anhand einzelner Portraits von Roma und Sinti deren Leben
und die Geschichte von Ausgrenzung und Widerstand zeigt. Ich möchte auch
auf unsere Ausstellung Frankfurt-Auschwitz hinweisen, die bis zum 7.2. im
Projekt Nika, Niddastraße 57, zu sehen ist.
Vielen Dank für Ihre
Teilnahme an der heutigen Gedenkveranstaltung.
Gedenkminute
Nicht in der Rede
verlesen
Die Verfolgungsgeschichte der Romni Maria
Weiss
Am 1.11.1922 wurde Frau
Weiss als Maria Janosch in Bad Oldeslohe geboren. Noch als Kind bezog sie
mit dem Vater Oskar und der Mutter Katharina, geborene Stefan, sowie den
Geschwistern Peter, Heini, Leitschi und Geja eine Wohnung in der
Siederstraße in Hamburg. Das Leben ist zunächst angenehm. Der Vater ist
Geschäftsmann und die Familie gut versorgt. Unter den Nazis wird jedoch
alsbald der Schulbesuch für Roma und Juden verboten, Herr Janosch verliert
seinen Gewerbeschein und für die Familie beginnt die Zwangsarbeit in einer
Zucker- und später in einer Fischfabrik.
1939 treibt die SS alle
Roma und Sinti aus Hamburg in ein Sammellager. Maria Weiss, ihre Eltern
und alle Geschwister werden ins Warschauer Ghetto deportiert. Von dort aus
kommt der Vater ins KZ Buchenwald, die Mutter und die Geschwister nach
Auschwitz. Die knapp 17jährige bleibt alleine zurück, wohnt in Baracken
und leidet bei harter Arbeit unter Krankheit und Mangelernährung.
Frau Weiss entkommt dem Ghetto, versteckt sich, wird 1941entdeckt,
verhaftet und nach Tomaschow, einem Lager bei Lublin/Polen, transportiert.
Die SS schikaniert die Häftlinge. Selbst Kinder werden von den
Lageraufsehern misshandelt. Nach einem Appell wird Maria Weiss wegen eines
„Verhaltensfehlers“ mit 25 Schlägen auf dem „Bock“, Prügel an Kopf und
Oberkörper und Arrest bestraft. Ab dem Zeitpunkt leidet Frau Weiss unter
erheblichen Schmerzen an der Bandscheibe.
Das KZ Ravensbrück ist
die nächste Station im Martyrium von Frau Weiss. Ab 1943 ist sie dort als
Zwangsarbeiterin im Straßenbau, Steinbruch und bei verschiedenen Firmen
tätig. Sie wird völlig kahl geschoren und ein Ohrring mit einem Teil des
Ohres abgerissen. Die Wachmannschaften verteilen verdorbenes Brot, an dem
viele Häftlinge sterben. Weil sie Kartoffeln für die im Lager internierten
Kinder versteckt hat, brachte man sie im Winter in den mit Wasser
gefüllten Stehbunker. Mit schwersten Erfrierungen und völlig steif endet
die Tortour nach drei Tagen.
Nach Ravensbrück folgt Ende 1943 das
letzte Lager, das KZ Bergen-Belsen. Misshandlungen sind auch dort an der
Tagesordnung. Die Insassen werden massenhaft durch Unterernährung und
Gewalt seitens der Aufseher ermordet. Die Zwangsarbeit in der
Rüstungsindustrie endet erst am 15.4.1945 mit der Befreiung durch die
britische Armee. Die Erfahrungen in den Lagern, die Brutalität am eigenen
Leib, die ständige Konfrontation mit Tod und Massenmord hinterlassen bei
Maria Weiss neben bleibenden körperlichen Schäden traumatische
Erinnerungen.
Frau Weis kehrt zurück nach Hamburg und sucht
verzweifelt nach Familienangehörigen. Sie erfährt, dass die Mutter, fast
alle Geschwister ermordet wurden und selbst der Vater noch kurz vor der
Befreiung des KZ-Buchenwald durch Erschießung ums Leben kam. Sie lernt
ihren Ehemann Hans Weiss kennen. Er wurde am 28.10.1924 in Bernburg
geboren, war im Lager Sachsenhausen interniert und starb 1987 in einer
Spezialklinik in München aufgrund der Schäden an seiner Gesundheit, die
ihm die KZ-Haft zufügte.
Anfang der 50er Jahre erfolgt der Umzug
nach Frankfurt. Hier leben Verwandte von Hans Weiss, der als Kaufmann
arbeitet. Frau Weiss bekommt einen Jungen und ein Mädchen. Die Tochter
stirbt früh. Die Familie wohnt in der Albusgasse, in der Seilerstraße, in
der Berger Straße und in der Nordweststadt. Nach dem Tod des Ehemannes
lebt Frau Weiss alleine in der Wittelsbacher Allee.
Ein
Entschädigungsantrag über den „Verband für Freiheit und Menschenwürde e.
V.“ ist erfolgreich. Frau Weiss erhält wegen „Freiheitsentzug“ 2.400,--
DM. In den Entscheidungsgründen hierfür spielt ausschließlich die
Internierung in Bergen-Belsen eine Rolle. Die Zeiten vorher werden als
unerheblich abgetan und die rassischen Gründe der Verfolgung relativiert
(„Es könnte in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob bereits eine
früherer Zeitpunkt als Ende 1943 als verfolgungsbedingte Inhaftierung in
Betracht kommen kann …“, RP Wiesbaden, 1956).
Eine zweite Zahlung
im gleichen Jahr ergeht in Höhe von 1.350,-- DM. Ihr liegt laut Urteil der
Auschwitz-Erlass vom 16.12.1942 zugrunde, nach dem alle Roma und Sinti ab
März 1943 ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Das RP Wiesbaden errechnet
akribisch die Restsumme und teilt mit, dass die Verfolgung der Jahre
vorher nicht geltend gemacht werden könne, da diese „Umsiedlungsaktion
ausschließlich auf militärischen und sicherheitspolizeilichen Maßnahmen
beruhte“. Die Erfassung, Verfolgung und Internierung der Roma seit 1933,
die mit der Forderung nach Sterilisierung begann und über unzählige
Erlasse, Verordnungen und Deportationen schließlich in der industriellen
Vernichtung einer halben Million Menschen aus rassischen Gründen endete,
wird auch bei Frau Weiss in ihrer ganzen Tragweite vorsätzlich außer acht
gelassen.
Mit 65 Jahren erhält Frau Weiss eine Rente nach dem
Bundesentschädigungsgesetz, die mit der Sozialhilfe verrechnet wird. Ein
Antrag des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma führt 2000, also 55
Jahre nach den Geschehnissen, zu einer Einmalzahlung durch den
Siemens-Konzern aufgrund der geleisteten Sklavenarbeit. Die Summe von
10.000 DM wird allerdings mit einer späteren Entschädigung der Stiftung
Erinnerung, Verantwortung und Zukunft verrechnet. Proteste seitens des
Förderverein Roma bleiben erfolglos. Frau Weiss bekommt noch eine
einmalige Zahlung in Höhe von 2556 €. Summiert man die
Entschädigungszahlungen seit 1956, so bleibt ein Almosen für die lange
Zeit von Verfolgung, Terror, Gewalt und den Verlust der Familie.
Die letzten Jahre waren für Maria Weiss geprägt von Enttäuschung und
Schmerz. Sie leidet an Osteoporose, Arthrose, hat starke chronische
Schmerzen an Hüfte, Rücken, Lenden und Bandscheibe. Die Atemwege sind
verengt. Hinzu kommen eine Herzerkrankung, Gallen- und Darmprobleme,
Depressionen, Traumatisierung und starke Schlafstörungen. Eine Therapie
wird von der Kasse nicht übernommen. Frau Weiss bleiben nach Abzug aller
Kosten noch 280 € zum Leben. Der ewige Streit um die Finanzierung von
Medikamenten zermürbt. Ihr Gesundheitszustand wird immer bedenklicher.
Arztberichte dokumentieren wie auch in vielen anderen Fällen Apathie,
Angstzustände, Antriebslosigkeit und Verzweiflung.
Im August 2006
beschreibt Maria Weiss letztmalig ihr Leben in einem längeren Interview
vor der Kamera. Sie dokumentierte die Geschichte der Verfolgung und
Vernichtung der Roma oft an öffentlicher Stelle, um Lügen über die
Verbrechen im Nationalsozialismus und dem Vergessen entgegenzutreten. Am
14.11.2006 stirbt sie nach langer schwerer Krankheit an den Spätfolgen der
KZ-Haft im Kreise ihrer Familie.
Joachim Brenner, Förderverein Roma
e. V.
|