Die Bedeutung der Befreiung ist für Roma und Sinti unschätzbar. Jede
Familie hat in der NS-Zeit ermordete Menschen zu beklagen. Dieser Verlust
hat für alle, gleich ob deutscher Sinto oder rumänische Romni, eine
generative Traumatisierung zur Folge. Kind und Kindeskinder sind geprägt
von der Erfahrung der Vernichtung, von der anhaltenden Diskriminierung in
allen Lebensbereichen und dem fortdauernden tödlichen Rassismus. Die Morde
in Hanau, die nicht aufgeklärten Brandanschläge in Frankfurt, Pogrome in
verschiedenen Ländern, die alltägliche Ausgrenzung, ein Leben in Armut,
Elend und Chancenlosigkeit kennzeichnen die Lage vieler Menschen der
größten Minderheit Europas. Befreiung bedeutet allerdings auch die
Vergegenwärtigung von Widerstand, die Geschichte der erfolgreichen
Selbstorganisation und des vielfältigen Engagements gegen die umfängliche
Form der Marginalisierung. Der Akt der Befreiung ist ein konstitutiver
Teil des Selbstbewusstseins der Roma und Sinti.
Das Leben der Romni
Maria Weiss beschreibt die Bedeutung des 8. Mai, dem Tag der Befreiung.
Gleichzeitig steht es beispielhaft für den bis in die Gegenwart
anhaltenden Rassismus gegenüber Roma und Sinti. Am 1.11.1922 wurde Frau
Weiss als Maria Janosch in Bad Oldeslohe geboren. Noch als Kind bezog sie
mit dem Vater Oskar und der Mutter Katharina sowie den vier Geschwistern
eine Wohnung in der Siederstraße in Hamburg. Das Leben ist zunächst
angenehm. Der Vater ist Geschäftsmann und die Familie gut versorgt. 1939
treibt die SS alle Roma und Sinti aus Hamburg in ein Sammellager. Die
Familie Weiss wird in das Warschauer Ghetto deportiert. Von dort aus kommt
der Vater ins KZ Buchenwald, die Mutter und die Geschwister nach
Auschwitz. Die knapp 17jährige bleibt alleine zurück, wohnt in Baracken
und leidet bei harter Arbeit unter Krankheit und Mangelernährung. Frau
Weiss entkommt dem Ghetto, versteckt sich, wird 1941 entdeckt, verhaftet
und nach Tomaschow, einem Lager bei Lublin/Polen, transportiert. Nach
einem Appell wird sie wegen eines „Verhaltensfehlers“ mit 25 Schlägen auf
dem „Bock“, Prügel an Kopf und Oberkörper und Arrest bestraft. Ab 1943 ist
sie im KZ Ravensbrück als Zwangsarbeiterin im Straßenbau, Steinbruch und
bei verschiedenen Firmen tätig. Sie wird völlig kahlgeschoren und ein
Ohrring mit einem Teil des Ohres abgerissen. Die Wachmannschaften
verteilen verdorbenes Brot, an dem viele Häftlinge sterben. Weil sie
Kartoffeln für die im Lager internierten Kinder versteckt hat, bringt man
sie im Winter in den mit Wasser gefüllten Stehbunker. Mit schwersten
Erfrierungen und völlig steif endet die Tortur nach drei Tagen.
Nach Ravensbrück folgt Ende 1943 das letzte Lager, das KZ Bergen-Belsen.
Misshandlungen sind auch dort an der Tagesordnung. Die Insassen werden
massenhaft durch Unterernährung und Gewalt seitens der Aufseher ermordet.
Die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie endet erst am 15.4.1945 mit der
Befreiung durch die britische Armee. Die Erfahrungen in den Lagern, die
Brutalität am eigenen Leib, die ständige Konfrontation mit Tod und
Massenmord hinterlassen bei Maria Weiss neben bleibenden körperlichen
Schäden traumatische Erinnerungen.
Frau Weis kehrt zurück nach
Hamburg und sucht verzweifelt nach Familienangehörigen. Sie erfährt, dass
die Mutter, fast alle Geschwister und selbst der Vater noch kurz vor der
Befreiung des KZ-Buchenwald erschossen wurden. Sie heiratet, ihr Mann hat
ebenfalls die NS-Lager überlebt. Anfang der 50er Jahre erfolgt der Umzug
nach Frankfurt, sie bekommt einen Jungen und ein Mädchen. Die Tochter
stirbt früh. Nach dem Tod des Ehemannes lebt Frau Weiss alleine in der
Wittelsbacher Allee. Ein Entschädigungsantrag über den „Verband für
Freiheit und Menschenwürde e. V.“ ist erfolgreich. Frau Weiss erhält wegen
„Freiheitsentzug“ 2400,-- DM. In den Entscheidungsgründen hierfür spielt
ausschließlich die Internierung in Bergen-Belsen eine Rolle. Die Zeiten
vorher werden als unerheblich abgetan und die rassischen Gründe der
Verfolgung relativiert. Eine zweite Zahlung ergeht in Höhe von 1350,-- DM.
Ihr liegt laut Urteil der Auschwitz-Erlass vom 16.12.1942 zugrunde, nach
dem alle Roma und Sinti ab März 1943 ins KZ Auschwitz deportiert wurden.
Das RP Wiesbaden errechnet akribisch die Restsumme und teilt mit, dass die
Verfolgung der Jahre vorher nicht geltend gemacht werden könne, da diese
„Umsiedlungsaktion ausschließlich auf militärischen und
sicherheits-polizeilichen Maßnahmen beruhte“. Die Erfassung, Verfolgung
und Internierung der Roma seit 1933, Zwangssterilisierungen, Deportationen
und die Vernichtung einer halben Million Menschen aus rassischen Gründen
wird seitens der Justiz auch bei Frau Weiss in ihrer ganzen Tragweite
vorsätzlich außer Acht gelassen. Mit 65 Jahren erhält sie eine Rente nach
dem Bundesentschädigungsgesetz, die mit der Sozialhilfe verrechnet wird.
Ein Antrag des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma führt 2000, also
55 Jahre nach den Geschehnissen, zu einer Einmalzahlung durch den
Siemens-Konzern aufgrund der geleisteten Sklavenarbeit. Die Summe wird
allerdings mit einer späteren Entschädigung der Stiftung Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft verrechnet. Proteste seitens des Förderverein
Roma bleiben erfolglos. Frau Weiss bekommt noch eine einmalige Zahlung in
Höhe von 2556 €. Summiert man die Entschädigungszahlungen seit 1956, so
bleibt ein Almosen für die lange Zeit von Verfolgung, Terror, Gewalt und
den Verlust der Familie.
Die letzten Jahre waren für Maria Weiss
gezeichnet von Enttäuschung und Schmerz. Sie leidet an Osteoporose,
Arthrose, hat starke chronische Schmerzen an Hüfte, Rücken, Lenden und
Bandscheibe. Die Atemwege sind verengt. Hinzu kommen eine Herzerkrankung,
Gallen- und Darmprobleme, Depressionen, Traumatisierung und starke
Schlafstörungen. Eine Therapie wird von der Kasse nicht übernommen. Frau
Weiss bleiben nach Abzug aller Kosten noch 280 € zum Leben. Der ewige
Streit um die Finanzierung von Medikamenten zermürbt. Ihr
Gesundheitszustand wird immer bedenklicher. Arztberichte dokumentieren
Apathie, Angstzustände, Antriebslosigkeit und Verzweiflung. Im August 2006
beschreibt Maria Weiss letztmalig ihr Leben in einem längeren Interview
vor der Kamera. Sie informierte über die Geschichte der Verfolgung und
Vernichtung der Roma oft an öffentlicher Stelle, um Lügen über die
Verbrechen im Nationalsozialismus und dem Vergessen entgegenzutreten. Am
14.11.2006 stirbt sie nach langer schwerer Krankheit an den Spätfolgen der
KZ-Haft im Kreis ihrer Familie.
Der 8. Mai ist auch Anlass, um die
aktuelle Situation von Roma darzustellen. Seit Jahren häufen sich
Mitteilungen über die europaweite Zunahme von Ausgrenzung und
rassistischer Gewalt. Die Corona Pandemie verdeutlicht die besondere Lage.
Nicht zuletzt trifft sie Roma- und Sinti Familien – vor allem diejenigen,
die in Armut und Obdachlosigkeit leben müssen. In Bulgarien werden
Roma-Viertel isoliert, da ihnen die Infizierung und Verbreitung des Virus
unterstellt werden. Eine Maßnahme, mit der keine andere Bevölkerungsgruppe
des Landes konfrontiert wird. Im Kosovo bemängeln Roma-Politiker die
mangelnde Information und Unterstützung, sie greifen auf eigene
Initiativen zurück. Aktivisten aus Bosnien-Herzegowina berichten über die
zunehmende Verelendung, weil wesentliche Einnahmequellen, nämlich die
Sammlung und Verwertung von Wertstoffen nicht mehr möglich sind;
öffentliche Hilfe bleibt aus. In Albanien protestiert die Roma Community
über Verarmung aufgrund der Ausgangssperre. Bei der Verteilung von
Lebensmittelpaketen werden Roma benachteiligt, medizinische und
finanzielle Hilfen bleiben aus. In Nord-Mazedonien wurden Roma Musiker im
Gegensatz zu anderen Einreisenden in Zwangsquarantäne genommen; infiziert
waren die Betroffenen nicht. In der Slowakei werden landesweit im Rahmen
der größten zivilmilitärischen Operation in der Geschichte des Landes
ausschließlich Roma Siedlungen, d. h. Viertel, die über Jahrzehnte im
Elend gehalten wurden, überprüft. Legitimiert wird die Aktion mit der
stigmatisierenden Begründung, dass das öffentliche Leben und die
öffentliche Sicherheit nur so aufrechterhalten werden könne. Die
ungarische Regierung instrumentalisiert die Corona Pandemie, hetzt gegen
Roma und verweigert Entschädigungen, die ihnen aufgrund von Segregationen
im Schulbetrieb seit Monaten höchstrichterlich zustehen. Die Erklärung des
Ausnahmezustandes in Ungarn findet ihre Begründung u. a. in der breiten
Diffamierung von Roma.
Anstatt schnell und angemessen Unterkünfte
für obdachlose Roma zur Verfügung zu stellen, lassen sich auch viele
westeuropäische Städte Zeit. Frankfurt reagiert bezüglich der
Bereitstellung von adäquaten, den aktuellen Gesundheitsempfehlungen
gemäßen Räumen nur ungenügend. Die völlig undurchsichtige, einer
grundsätzlichen demokratischen Kontrolle entzogene Verfahrensweise der
Zimmervermittlung offenbart ihre Unzulänglichkeit und Willkür gerade in
der gegenwärtigen Krisensituation. Eine angemessene Unterbringung von
Obdachlosen angesichts der Corona Pandemie unterbleibt. Die Sozialberatung
des Förderverein Roma berichtet exemplarisch über einen schwer
körperbehinderter Mann, der zur Hochrisikogruppe gehört und sich in einer
Frankfurter Notunterkunft befindet. Nur ein bisher verweigertes
Hotelzimmer kann gewährleisten, die dringend erforderlichen Distanz- und
Hygienemaßgaben umzusetzen. Das Jugendamt hat einen Großteil seiner
externen ambulanten Leistungen eingestellt. Auch das Angebot der
humanitären Sprechstunden im Gesundheitsamt wurde eingeschränkt. Menschen,
die bereits durch ein Leben am Rande der Gesellschaft, durch chronische
Krankheiten und eine umfängliche Form der Ausgrenzung gezeichnet sind,
sehen sich einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Die Todesfälle im
Zusammenhang mit dem Corona-Virus häufen sich in der Gemeinde. Roma, die
gezwungen sind, auf der Straße zu leben, ihre Existenz durch Musik, das
Sammeln von Pfandflaschen, durch Betteln und Tagesjobs notdürftig sichern,
sind durch das weitgehende Einstellen des öffentlichen Lebens besonders
hart betroffen. Viele, die im Reinigungsbereich, in der Hotelbranche oder
am Bau oft prekär beschäftigt waren, haben als erste ihre Arbeit verloren.
Anlässlich des Gedenkens an den Tag der Befreiung, in Anbetracht der
zunehmenden Ausgrenzung von Roma und Sinti in Europa und mit Blick auf die
sich zuspitzende Situation aufgrund der Corona Pandemie wiederholt der
Förderverein Roma seine Forderungen: statt der Verweigerung von Hilfe und
der breiten Stigmatisierung von Roma und Sinti müssen die schnelle
Bereitstellung von Wohnraum, die gesicherte gesundheitliche und
alltägliche Versorgung sowie die Einstellung von Abschiebungen
schnellstmöglich umgesetzt werden.
Ffm., den 6.5.2020
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