Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sinti
und Roma, stellte fest: „Die Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung
ist bei den deutschen Sinti und Roma bis heute präsent und prägend; es
gibt in Deutschland keine Familie unter den Sinti und Roma, die nicht
unmittelbare Angehörige verloren hat. Diese Erfahrung hat die Angehörigen
der Minderheit besonders sensibilisiert, wenn neuer Rassismus und Hass
gegen Ausländer aufkeimt …“
Roma Familien aus allen europäischen
Ländern teilen diese Traumatisierung. Über eine halbe Million Menschen der
größten europäischen Minderheit sind in der NS-Zeit ermordet worden. Erst
40 Jahre nach Verfolgung und Vernichtung, nämlich 1982, wurde der
Völkermord an Roma und Sinti in Deutschland anerkannt.
Bereits im
Dezember1938 ordnete Himmler die Erfassung alle Roma und Sinti im
deutschen Reich an. Juden und Roma wurden ab September 1939 nach Polen
deportiert und durch den Festsetzungserlass einen Monat später gezwungen,
sich in ihren Wohnungen zum Transport bereit zu halten. Ab Mai 1940 fanden
Massendeportationen statt und zwei Jahre später stand fest, dass Juden,
Roma und Sinti vernichtet werden sollen. Die Nacht vom 2. auf den 3.
August stellte den Höhepunkt der Vernichtung der Roma und Sinti in
Auschwitz dar. Allein in dieser Nacht wurden nach neuesten Untersuchungen
über 4000 Menschen vergast.
Am 27.1.1945 wurde Auschwitz befreit.
Den sowjetischen Truppen bot sich ein unfassbares Bild. Eine überlebende
Romni berichtet „Alles, was ich damals erlebt habe, kann ich nicht
vergessen, bis auf den heutigen Tag. Regelmäßig habe ich nachts Alpträume,
dann träume ich von all dem Schrecklichen, das ich in Auschwitz und
anderswo erlebt habe, ich wache dann mitten in der Nacht aus meinen
Träumen auf und zittere am ganzen Körper. Die Angstträume kehren immer
wieder zurück, sie sind ein Teil von mir geworden, den ich nicht mehr
loswerde.“ Hermann Langbein, ebenfalls ein Auschwitz-Überlebender,
beschrieb, dass es im Vernichtungslager Auschwitz Birkenau nichts
Elenderes gab als den sogenannten „Zigeunerblock“. Viele bezeichnen
Auschwitz als Hölle, weil ihnen die Worte zur Beschreibung fehlen. Roma
und Sinti waren Opfer von Sonderkommandos, von medizinischen Experimenten,
von unmenschlichen Arbeitsbedingungen – sie waren Opfer der fabrikmäßig
organisierten perfekten Mordmaschinerie.
Die Vorstufe zur
Vernichtung wurde durch die Erfassung aller im deutschen Reich lebenden
Roma und Sinti geschaffen. Robert Ritter, Leiter der „Rassenhygienischen
und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes
Berlin“ und seine enge Mitarbeiter Eva Justin waren hierfür maßgeblich
verantwortlich. Ihre sogenannten „rassenbiologischen“ Untersuchungen
registrierten minutiös über 20.000 Roma und Sinti. Sie leisteten damit die
Voraussetzung für die spätere fabrikmäßige Vernichtung. Im
Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main befand sich das Erbarchiv. Es diente
zur Erfassung und Kategorisierung von Menschen gemäß den Kriterien
„Fremdrassig, Jude, Zigeuner“. Das Amt kooperierte eng mit dem
Reichssicherheitshauptamt, d. h. der „Dienststelle für Zigeunerfragen“,
der Frankfurter Kriminalpolizei, dem Reichsgesundheitsamt, den
Meldestellen und Standesämtern. Es bereitete so die Einweisung in die
Psychiatrie vor, begleitete Verfahren beim Erbgesundheitsgericht und
entschied bei Zwangssterilisationen.
Eva Justin verfasste eine
Doktorarbeit mit dem Titel „Lebensschicksal artfremd erzogener Zigeuner“.
Sie untersuchte 39 Sinti Kinder in einem Kinderheim der Caritas in
Mulfingen bei Stuttgart. Nach Beendigung ihrer Studien starben fast alle
Kinder in den Gaskammern von Auschwitz. Bereits in den 20iger Jahren wurde
durch Wilhelm Leuschner, dem damaligen hessischen Innenminister, das
„Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, das später den Nazis als
Vorlage für ihre rassistische Gesetzgebung gegenüber Roma und Sinti
diente, auf den Weg gebracht. Es sah Einschränkungen der Gewerbefreiheit,
das Verbot, in „Horden“ (ab zwei Personen) zu reisen, die Erfassung von
Fingerabdrücken und deren zentrale Speicherung im Münchener
„Nachrichtendienst“ vor. Leuschner beschwerte sich, dass die
Stadtverwaltung Frankfurt die bereits 1929 im Konzentrationslager
Friedberger Landstraße internierten Roma auch dort meldete und so die
Voraussetzung für einen Wandergewerbeschein erbrachte. Er empfahl den
hessischen Behörden, Personen mit Adresse Lager Friedberger Landstraße
auszuweisen. Bemerkenswert und bezeichnend in diesem Zusammenhang ist,
dass in den vielen Reden über den späteren Widerstandskämpfer Leuschner
seine Verantwortung an der Verfolgung von Roma und Sinti regelhaft
ignoriert wird.
Oberbürgermeister Krebs vertrieb kurz nach der
Machtübernahme der Nazis Roma- und Sinti-Familien aus Frankfurt und
kooperierte eng mit Polizeipräsident Beckerle. Beckerle ließ 1937 das
Lager Dieselstraße, später auch das Lager Kruppstraße errichten und
betrieb mit Hochdruck die systematisch Erfassung und Zentralisierung der
Daten und die Internierung, die schließlich in die Deportation in
Konzentrations- und Vernichtungslager führte. Im universitären
Wissenschaftsbetrieb etablierte sich 1935 Ottmar von Verschuer als Leiter
des Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene. Gerhard Stein, der
Assistent von Verschuer, begann im selben Jahr mit rassenbiologischen
Untersuchungen an Roma und Sinti in Frankfurt am Main und Berlin. Auch
Josef Mengele studierte in den 30iger Jahren an der Frankfurter
Universität.
1947 wurde Robert Ritter von Sozialdezernent Prestel
als Stadtarzt und Leiter der Jugendsichtungsstelle für Gemüts- und
Nervenkranke und der Jugendpsychiatrie nach Frankfurt am Main gerufen.
Prestel war seit 1937 verantwortlich für die Konzentrationslager für Roma
und Sinti in der Krupp- und Dieselstraße. Auch Personaldezernent Menzer
stand hinter der Anstellung. Ritter empfahl sich gegenüber der
Stadtverwaltung durch die Fragestellung, ob Umwelteinflüsse oder
charakterliche Eigenarten Begründungen von asozialem Verhalten seien und
schlug vor, Roma und Sinti in Lager unterzubringen. Justin folgte auf
Wunsch von Ritter als Jugend- und Kriminalpsychologin ins
Stadtgesundheitsamt Ffm. und profilierte sich durch Untersuchungen, die
zum Gegenstand hatten, ob man vom Aussehen eines Menschen auf dessen
kriminelles Wesen schließen kann. Ritter starb 1951. Verfahren auf
Initiative von Roma und Sinti gegen Justin blieben erfolglos. Erst Anfang
der 60er Jahre wurden die Verbrechen beider aufgrund von
Veröffentlichungen in Quick, Spiegel und Stern sowie des Journalisten
Valentin Senger wieder öffentlich diskutiert, Justin jedoch nicht
verurteilt. Lediglich die Arbeitsstelle von Justin wurde auf den Bonameser
Standplatz, wo auch Roma und Sinti lebten, verlegt. Sie erforschte dort
erneut deren soziale Situation und war danach im Universitätsklinikum Ffm.
tätig.
Erst im Jahr 2000 konnten die Roma-Union, der Förderverein
Roma und etliche Privatpersonen mittels jahrelanger Öffentlichkeitsarbeit
und durch private Gelder finanziert eine Mahntafel in der Braubachstraße
anbringen. Sie wurde gegen die Mehrheit im Römer, gegen Proteste aus dem
Ortsbeirat und dem Institut für Stadtgeschichte durchgesetzt. Die Gegner
der Mahntafel behaupteten u. a., durch die Tafel würde ein Pilgerort für
Neonazis entstehen. Mit derselben Begründung verweigerte die Stadt Rostock
die Umbenennung eines Straßennamens in den von der NSU ermordeten Mehmet
Turgut. Die Tafel erinnert an die ermordeten Roma und Sinti und daran,
dass Ritter und Justin nach 1945 im gehobenen Dienste der Stadt Frankfurt
standen. Die Tafel wurde nach dem Auszug des Stadtgesundheitsamtes während
den Umbauarbeiten ohne Information des Förderverein Roma vom Institut für
Stadtgeschichte entfernt. Nach Protesten konnte sie sichergestellt und
wieder an historischem Ort angebracht werden. Weitere Orte des Erinnerns,
der Mahnung an Verantwortung fehlen. Alleine die recht spät errichteten
Gedenkplatten auf dem Hauptfriedhof, in der Krupp- und Dieselstrasse und
am Stadtgesundheitsamt reichen nicht aus. Sie schließen auch nicht, wie
der frühere Kulturdezernent Nordhoff formulierte, eine Lücke. Im
Gegenteil, gerade jetzt ist es notwendiger denn je, daran zu erinnern,
welche Rolle NS Bürgermeister Krebs und der Polizeipräsident Beckerle bei
der Verfolgung von Roma und Sinti hatten. Es soll nicht verschwiegen
werden, dass KZ-Arzt Mengele und Otmar von Verschuer an der Frankfurter
Uni tätig waren. Hinweise über die Machenschaften des
Erbgesundheitsgerichtes während der NS-Zeit und die Informationen, aus
welchen Schulen Roma-Kinder entfernt wurden, stehen aus. Und schließlich
bleibt die langjährige Forderung, ein zentrales Mahnmal zu errichten.
Die Aufklärung der Brandanschläge auf schlafende Roma und einem von
Roma bewohnten Mehrfamilienhaus in Frankfurt im Jahr 2016 steht immer noch
aus. Mit Nachdruck wird nicht ermittelt. Erinnert sei in dem Zusammenhang
an die Hetze und den Anschlag in Fechenheim in den 90iger Jahren.
Gegenstand war damals nicht die Überlegung über die Ursache des Elends der
Betroffenen oder die Bemühung, erträgliche Lebensumstände zu schaffen. Es
ging vielmehr darum, ihren Aufenthalt zu verunmöglichen, sie zum Verlassen
des Hauses oder der Stadt zu nötigen. So schließt sich der Kreis der
Betrachtung. Unschuldig bleiben in dieser Logik von Gewalt und
rechtfertigender Erklärung allein die Initiatoren der Ausgrenzung.
Die alltägliche Marginalisierung von Roma aus Osteuropa und die
massenhafte Abschiebung von Roma Flüchtlingen ins ehemalige Jugoslawien,
in Elend und Gewalt, bleibt absichtlich geschichtslos. Die umfängliche
Herabwürdigung von asylsuchenden Roma aus Serbien, Bosnien und Mazedonien,
ist allgegenwärtig. Mit der Einstufung der Länder des ehemaligen
Jugoslawiens als sichere Herkunftsländer durch die Bundesregierung – nicht
zuletzt wegen dem Votum eines grünen Ministerpräsidenten - ist die
Abschiebung von 80.000 Roma in Perspektivlosigkeit, Armut und Gewalt
gemachte Sache. Die Situation in Osteuropa wird für Roma zunehmend
gefährlicher. Ungarische Juden, die in Parlament und Regierung sind,
sollen sich nach Meinung der rechtsradikalen Partei Jobbik registrieren
lassen, weil sie angeblich eine Gefahr für das Land darstellen. Die
Auftragsmorde an Roma, denen neun Personen zum Opfer fielen, die
Diskriminierung und die Zuschreibung als Sündenbock für politische und
ökonomische Fehlentwicklungen dokumentieren individuelle und
gesellschaftliche Gewalt.
Es geht auch in westeuropäischen Städten
vielen Roma-MigrantInnen schlecht. Gesetzesänderungen reduzieren oder
verweigern den Rechtsanspruch auf Hilfe. Die Frankfurter Brache, auf der
obdachlose Roma eigenbestimmt lebten, wurde geräumt, weil nicht alleine
die Unterlassung von öffentlicher Hilfe ausreichte. Das Ordnungsamt
zerstörte darüber hinaus auch die Struktur der Selbsthilfe. Verstärkt
wurde dagegen die Kontrolle im öffentlichen Raum, Barverwarnungen
ausgesprochen, es erfolgten unrechtmäßig stigmatisierende Sichtvermerke in
Pässen und es wird immer stärker geprüft, ob nicht die Ausweisung der
EU-Bürger, die im Elend leben, umgesetzt werden kann. Das
EU-Freizügigkeitsrecht wird zunehmend verschärft. Ohne sie namentlich zu
nennen, sind Roma die Adressaten. Formulierungen wie „schwer integrierbare
Familien“, „Sozialmissbrauch“ oder „Rechtsmissbrauch“ sind bekannte
Synonyme. Die freigesetzte Assoziationskette ist eingeübt und funktioniert
hervorragend. Den Betroffenen wird die Freizügigkeit entzogen, d. h. das
Grundrecht, welches nicht nur die EU-Osterweiterung, sondern den gesamten
europäischen Einigungsprozess bedingt und nach dessen Vereinbarung vor
allem die deutsche Ökonomie glänzende Geschäfte macht. Beschlossen sind
Sanktionen wie härtere Strafen, Ausreisepflicht, Ausweisungen mit
Einreisesperren und höhere Zugangsvoraussetzungen für den Leistungsbezug.
Freier Personen-, Dienstleistungs- und Warenverkehr gilt nicht für jeden
und alles. Armut wird nicht mehr auf das zurückgeführt, was sie
verursacht, nämlich Ausgrenzung, Chancenlosigkeit, Gewalt, Rassismus und
Antisemitismus. In der medialen und politischen Darstellung wird auf
persönliches Versagen, individuelles Unvermögen oder böswillige
Gegenkonzepte verwiesen. Den Betrachtern präsentiert man gleichzeitig
Bilder von kinderreichen Familien aus Rumänien und Bulgarien mit dunkler
Hautfarbe und schwarzen Haaren. Marginalisierung und strukturelle Gewalt
gegenüber Roma nehmen zu. Der Verelendung wird mit ordnungsliebender
Hilfeversagung begegnet, Armut mit Inobhutnahmen und Einschüchterung. Die
Restriktionen in der Gesetzgebung werden mit Eifer ausgeführt. Die Fälle
von Diskriminierung häufen sich. Eine Frankfurter Studie, die die
Missstände kritisiert, wurde erst mit erheblicher Verspätung
veröffentlicht.
Die Corona Pandemie betrifft marginalisierte
Menschen am Stärksten. Roma Flüchtlinge und MigrantInnen sind besonders
hart mit der Corona-Pandemie konfrontiert. Europäische Roma Verbände
berichten von schweren Misshandlungen in der Slowakei und in Rumänien. Sie
werden als Verursacher bezeichnet und ihre Persönlichkeitsrechte mit
Füssen getreten. Schnell wurde deutlich, dass das Virus nicht, wie es zu
Beginn der Krise noch hieß, alle gleichermaßen betrifft. Die getroffenen
Schutz-Maßnahmen schützen nicht alle gleichermaßen. Schonungslos offenbart
und vertieft Corona bestehende soziale Ungleichheiten. Verschärfend kommt
hinzu, dass die Debatte als auch die politischen Maßnahmen die in den
Gesellschaften bestehenden Vorurteile weiter schüren. So stigmatisierte
die Berichterstattung über die lokalen Ausbrüche in zwei Göttinger
Hochhäusern die BewohnerIinnen und leistete rassistischer Hetze Vorschub.
Stimmen der Betroffenen blieben lange ungehört, strukturelle Faktoren, die
Ansteckungsrisiken erhöhen und den Zugang zur Gesundheitsversorgung
erschweren, oftmals unerwähnt. In Frankfurt häufen sich die Versagungen
von Leistungen und Unterbringungen entsprechen nicht den notwendigen
Regeln. Behördliches Handeln wird zunehmend willkürlich, persönliche
Kontakte sind aufgrund der Schließung der Ämter für die Hilfesuchenden
kaum noch möglich, es wird nach Aktenlage entschieden und das zu oft zum
Nachteil der Betroffenen.
Der Förderverein Roma e. V. wird im
Herbst dieses Jahres in Zusammenarbeit mit der Bildungsstätte Anne Frank
und der Medienpädagogin Ursula S. Pallmer eine interaktive Ausstellung
eröffnen. Die Erfahrungen und aktuellen Lebensentwürfe vieler junger Roma
und Sinti bezeugen die Wirkungsgeschichte von Vernichtung, Verfolgung und
Diskriminierung, sie vermitteln die generativen traumatischen Prägungen in
den Familien bis in die Gegenwart. Gleichzeitig sind sie ein Zeichen für
Hoffnung, Widerstand, Identität und Perspektive!
Ffm., den
26.01.2021
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